Robert Walser

Der Gehülfe


Скачать книгу

den er mit hinaufgenommen hatte, auf dem Parkettboden ab.

      Später wurde er in die Geheimnisse der Toblerschen geschäftlichen Unternehmungen kurz eingeweiht und mit den Pflichten, die er zu erfüllen hatte, im allgemeinen vertraut gemacht. Es ging ihm dabei eigentümlich, er verstand nur die Hälfte. Was denn nur mit ihm sei, dachte er und machte sich Vorwürfe: »Bin ich ein Betrüger, ein Schwätzer? Will ich Herrn Tobler hintergehen? Er verlangt einen ›Kopf‹ und ich, ich bin heute absolut kopflos. Vielleicht daß es morgen früh oder bereits heute abend besser geht.«

      Das Mittagessen schmeckte ihm ausgezeichnet.

      Wiederum dachte er besorgt. »Wie? Hier sitze ich und esse, wie es mir seit vielleicht Monaten nicht mehr gemundet hat, und kapiere nichts von den Winkelzügen der Unternehmungen Toblers? Ist das nicht Diebstahl? Das Essen ist wundervoll, es erinnert mich lebhaft an zu Hause. Solche Suppe hat Mutter gemacht. Wie kräftig und saftig das Gemüse ist, und das Fleisch. Wo kriegt man in der Großstadt dergleichen?«

      »Essen Sie, essen Sie,« trieb Tobler an, »in meinem Haus wird tapfer gegessen, haben Sie das verstanden? Nachher wird aber auch gearbeitet.«

      Der Herr sehe, er esse ja, erwiderte Joseph mit einer Schüchternheit, die ihn beinahe zornig machte. Er dachte: »Wird er mich nach acht Tagen auch noch zum Essen antreiben? Wie schmachvoll, zu empfinden, wie sehr mir dieses fremde Essen schmeckt. Werde ich diesen unverschämten Appetit durch entsprechende Leistungen rechtfertigen?«

      Er nahm sich von jeder Speise noch einmal auf seinen Teller. Ja, er kam aus den Tiefen der menschlichen Gesellschaft her, aus den schattigen, schweigsamen, kargen Winkeln der Großstadt. Er hatte seit Monaten schlecht gegessen.

      Ob man ihm dies etwa anmerke, dachte er und errötete.

      Ja, ein ganz klein wenig merkten das Toblers sicher. Die Frau betrachtete ihn mehrfach fast mitleidig. Die vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Knaben, sahen ihn wie etwas Wildfremdes und Sonderbares von der Seite her an. Diese ungeniert fragenden und forschenden Blicke entmutigten ihn. Solche Blicke erinnern eben an die Angeflogenheit an etwas Fremdes, an die Behäbigkeit dieses Fremden, das für sich eine Heimat darstellt, und an die Heimatlosigkeit desjenigen, der nun so dasitzt und die Pflicht hat, sich möglichst rasch und guten Willens in das behagliche fremde Bild heimatlich einzufügen. Solche Blicke machen einen frieren im heißesten Sonnenschein, sie dringen kalt in die Seele, bleiben da einen Moment kalt liegen und verlassen sie wieder, wie sie gekommen sind.

      »So. Jetzt an die Arbeit,« rief Tobler. Und beide verließen den Tisch und begaben sich, der Herr voran, in das Bureau hinunter, um da, wie der Befehl lautete, zu arbeiten.

       »Rauchen Sie?«

      Ja, Joseph rauche ganz gern.

      »Nehmen Sie sich einen Zigarrenstumpen aus dem blauen Paket dort. Sie dürfen während der Arbeit ruhig rauchen. Ich tu's ja auch. So. Und nun sehen Sie einmal hierher, das da, aber sehen Sie sie ordentlich an, sind die zur ›Reklame-Uhr‹ erforderlichen Papiere. Können Sie gut rechnen? – Dann um so besser. Es handelt sich nun in erster Linie – was tun Sie da? Mein junger Mann, die Asche gehört in den Aschenbecher. Ich habe gern Ordnung zwischen meinen eigenen vier Wänden – also in erster Linie handelt es sich, nehmen Sie einen Bleistift zur Hand, nun, sagen wir, um die Zusammenstellung, um die genaue Gewinnberechnung dieses Unternehmens. Nehmen Sie Platz hier, ich werde Ihnen sogleich die nötigen Angaben machen. Und daß Sie mir gefälligst aufpassen, denn ich sage meine Sachen nicht gern zweimal.«

      »Werde ich taugen?« dachte Joseph. Es war wenigstens gut, daß zu einer so schwierigen Arbeit geraucht werden durfte. Ohne Zigarrenstumpen würde er jetzt an der Rechtbeschaffenheit seines Kopfes ehrlich gezweifelt haben.

      Während der Angestellte nun schrieb, wobei ihm der Prinzipal von Zeit zu Zeit über die Schulter in die entstehende Leistung hinabblickte, spazierte dieser, eine krumme, langstielige Zigarre zwischen den schönen, blendend weißen Zähnen tragend, im Bureau auf und ab, um allerhand Zahlen anzugeben, die jeweils flink von einer heute noch ein wenig ungeübten Angestelltenhand nachgezeichnet wurden. Der bläuliche Rauch hüllte beide arbeitende Gestalten bald gänzlich ein, draußen vor den Fenstern schien sich das Wetter aufhellen zu wollen, Joseph warf ab und zu einen Blick durch die Scheibe und merkte die Veränderung, die sich leise am Himmel vollzog. Einmal bellte der Hund vor der Türe. Tobler trat auf einen Moment hinaus, um das Tier zu beruhigen. Nach Verlauf zweier Arbeitsstunden ließ Frau Tobler durch eines der Kinder zum Nachmittagskaffee rufen. Es sei draußen im Gartenhaus gedeckt, weil das Wetter sich gebessert habe. Der Chef ergriff seinen Hut und sagte zu Joseph, er solle jetzt Kaffeetrinken gehen und nachher das flüchtig Geschriebene ins reine setzen, bis er damit fertig sei, werde es wohl Abend geworden sein.

      Dann ging er. Joseph sah ihn den Hügel durch den abstürzenden Garten hinuntergehen. Welch eine stattliche Figur er hat, dachte er, er blieb noch eine ganze Weile so stehen und begab sich dann zum Kaffee in das hübsche, grünangestrichene Gartenhaus.

      Während des Imbisses fragte ihn die Frau: »Sind Sie stellenlos gewesen?«

      »Ja,« antwortete Joseph.

      »Lange?«

      Er gab ihr Auskunft, und sie seufzte jedesmal, wenn er von gewissen kläglichen Menschen und Menschenverhältnissen sprach. Sie tat das ganz leicht und obenhin, und sie behielt außerdem die jeweiligen Seufzer länger als gerade nötig war im Mund, als habe sie sich jedesmal an der Annehmlichkeit dieses Tons und Empfindens weiden können.

      »Gewissen Menschen,« dachte Joseph, »scheint es Vergnügen zu machen, an bedauerliche Dinge zu denken. Wie diese Frau Nachdenklichkeit mimt. Sie seufzt, wie andere lachen, genau so fröhlich. Ist das jetzt meine Herrin?«

      Später stürzte er sich in seine Reinschrift. Es wurde Abend. Morgen früh würde es sich ja zeigen, ob er eine Kraft oder eine Null, eine Intelligenz oder eine Maschine, ein Kopf oder ein Hohlkopf sei. Für heute war es seines Erachtens nach genug. Er räumte seine Arbeit zusammen und ging in sein Zimmer, froh darüber, für eine kleine Zeitlang allein sein zu dürfen. Er fing nicht ohne Wehmut an, seinen Handkoffer, seine ganze Besitzung, langsam, Stück für Stück, auszupacken, wobei er der unzählbaren Umzüge gedachte, zu deren Erledigung er sich nun schon so viele Male dieses Köfferchens bedient hatte. Schlichte Sachen werden einem so lieb, das empfand der junge Angestellte. Wie es ihm hier bei Tobler wohl gehen werde, fragte er sich, während er die paar Wäschestücke, die er besaß, in absichtlich säuberlichster Manier in den Schrank legte: »Gut oder schlecht, ich bin einmal da, gehe es wie es gehen kann.« Er gelobte sich im stillen, sich Mühe zu geben, indem er ein Knäuel alter Faden, Bindfadenteile, Halsbinden, Knöpfe, Nadeln und abgerissene Leinenfetzen auf den Fußboden warf. »Wenn ich nun schon einmal hier esse und schlafe, will ich mich geistig und körperlich dafür auch anstrengen,« murmelte er weiter, »wie alt bin ich jetzt? Vierundzwanzig! Das ist keine nennenswerte Jugend mehr. Ich bin zurückgeblieben im Leben.« Er hatte den Koffer geleert und stellte ihn in eine Ecke. Sobald er glaubte, daß es ungefähr Zeit sei, ging er zum Abendessen, später noch zur Post ins Dorf hinein, später schlafen.

      Im Laufe des nächsten Tages glaubte er sich mit dem Wesen der »Reklame-Uhr« dadurch bekannt gemacht zu haben, daß er begreifen lernte, daß dieses gewinnbringende Unternehmen eine dekorative Uhr sei, die Herr Tobler im Begriff war an Bahnverwaltungen, Restaurateure, Hoteliers &c. zu verpachten. Solch eine wirklich äußerst hübsch aussehende Uhr, kalkulierte Joseph, wird beispielsweise in einen oder in mehrere Straßenbahnwagen gehängt, und zwar an eine möglichst in aller Menschen Augen stechende Stelle, damit die fahrenden und reisenden Mitmenschen ihre Taschenuhren danach richten können und jederzeit wissen, wie spät oder wie früh es am Tage ist. Diese Uhr ist wahrhaftig nicht schlecht, meinte er allen Ernstes, um so weniger, als sie den Vorzug hat, mit dem Reklamewesen verbunden zu sein. Zu diesem Behufe hat man ihr ja ein einfaches oder doppeltes Adlerflügelpaar aus scheinbarem Silber oder gar Gold angehängt, zwecks zierlicher Bemalung. Und was wird man anderes darauf malen wollen als die genauen Adressen von Firmen, die sich dieser Flügel oder Felder, wie der technische Ausdruck lautet, zur nutzbringenden Insertion bedienen. »Solch ein Feld kostet Geld; infolgedessen hat man sich, wie mein Herr, der Herr Tobler, ganz richtig sagt, an nur erste Handels- und Fabriksfirmen