Helmut Stalder

Der Günstling


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Veltlin und Bormio. Aus der Sicht von Spanien-Mailand ist das Veltlin die beste Route zu den habsburgischen Stammlanden im Osten und ein mögliches nördliches Einfallstor des Protestantismus, sodass es dieses Gebiet unbedingt unter seine Kontrolle bringen will. Zudem ist Spanien bestrebt, möglichst direkte und sichere Verbindungen zwischen seinen Besitzungen in Norditalien und in den Niederlanden zu schaffen, hauptsächlich über den Sankt Gotthard und die katholische Innerschweiz, aber auch über die Bündner Pässe, via Rhein, Bodensee und das Elsass. Die Gegenkoalition Frankreich-Venedig hat ebenso hohes Interesse, Habsburgs strategische Verbindungslinien zu behindern und insbesondere die Routen über den Splügen- und den Septimerpass, die einzigen Nordanschlüsse der Republik Venedig, nicht in habsburgische Hände fallen zu lassen. Beide Seiten finden bei den massgebenden Adelsfamilien in den Drei Bünden willige Verbündete, die sich gegen Pensionen, Soldverträge und Bestechungsgelder auf die eine oder andere Seite schlagen, die katholische Familie von Planta auf die Seite Spanien-Österreichs, die reformierte Familie von Salis auf die Seite Frankreichs.

      Während sich im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts der Druck der europäischen Mächte in den von Reformation und Gegenreformation zerrütteten Drei Bünden erhöht und bald in kriegerische Interventionen und Anarchie mündet, hält sich das Wallis im unübersichtlichen Geflecht von Bündnissen und Gegenbündnissen in einem stets gefährdeten Gleichgewicht zwischen den benachbarten eidgenössischen Gebieten und den rivalisierenden Grossmächten. Das Wallis selbst ist tief gespalten und erheblichen inneren Spannungen ausgesetzt. Die Bruchlinie verläuft mitten durch das Tal. In den unteren Zenden Sitten, Siders und Leuk sind die tonangebenden Familien nach Frankreich orientiert und bilden die »französische Partei«. Die oberen Zenden Brig und Goms richten den Blick und die Politik nach der Innerschweiz und Spanien-Mailand aus und bilden die »spanische Partei«, während die Zenden Raron und Visp ebenfalls eher Spanien zuneigen, diese Orientierung aber weniger trennscharf und auch schwankend ist.

      Überlagert wird diese Entzweiung durch die religiösen Spannungen. Die Reformation hatte das Wallis keineswegs unberührt gelassen. Im Unterwallis und in den unteren Zenden Sitten, Siders und Leuk hatten sich einflussreiche Familien zum neuen Glauben bekannt, mit Rückendeckung und Unterstützung von Bern. Dieses war darauf aus, zusammen mit den reformierten Städten Zürich, Basel und Schaffhausen sowie den Drei Bünden im Osten die katholischen Orte einzukreisen und ihnen den Verkehr mit den katholischen Ländern zu erschweren. Gegen den reformierten Glauben und ihre Vertreter opponieren die streng katholischen und papsttreuen oberen Zenden, insbesondere der mit Sitten rivalisierende Zenden Brig und das Goms, die mit der katholischen Innerschweiz verbunden sind. Die innerschweizer Orte fürchten eine protestantische Umklammerung und sind angewiesen auf eine sichere Verbindung mit ihrem westlichen Bundesgenossen, dem Herzog von Savoyen.

      Der als gutmütig und nachsichtig geltende Fürstbischof Hildebrand I. von Riedmatten tut wenig zur Verteidigung des katholischen Glaubens im Wallis und damit auch für seine Stellung als Landesfürst, die im Zuge der Reformation von den städtischen Oberschichten insbesondere in den unteren Zenden immer stärker angefochten wird. Im Landrat haben die Neuerer um diese Zeit eine starke Stellung erreicht und die politischen, administrativen und judikativen Befugnisse des Bischofs weiter zurückgedrängt. Für sie ist es ausgemacht, nach dem Tod von Hildebrand I. von Riedmatten die bischöfliche Landesherrschaft ganz zu brechen und den Bischofssitz aufzuheben. Die katholischen, innerschweizerischen Orte beobachten die fortschreitende Reformation des Wallis mit Sorge. Im Herbst 1602, anlässlich der Erneuerung des Bundes in Sitten, drängt eine Delegation darauf, das katholische Kirchenleben im Wallis zu stärken und in Sitten ein Kapuzinerkloster einzurichten. Im Juli des darauffolgenden Jahres kreuzt auch eine Gegengesandtschaft der reformierten Orte und der Drei Bünde auf, muss aber unverrichteter Dinge zurückkehren.

      Da beschliessen die fünf katholischen Orte, die Rekatholisierung des Wallis selbst ins Werk zu setzen. Mit Rückendeckung des spanischen Gubernators in Mailand, Pedro Henriquez de Acevedo Graf von Fuentes, und des Herzogs Karl Emanuel I. von Savoyen überschreitet im August 1603 eine von einem Luzerner Schultheissen und einem Urner Landammann geleitete Gesandtschaft den Furkapass. Sie hat die Instruktion, von Zenden zu Zenden zu ziehen und »den Gemeinden zuzusprechen«, also den neuen Glauben zu bekämpfen, indem sie unter Umgehung des Landrates direkt im Volk die Leidenschaften entfesselt. Die Gemeinden werden versammelt, die Anwesenden verpflichtet, für den alten Glauben Gut und Blut zu opfern. Drohung und Enthusiasmus tun ihre Wirkung: Unter begeistertem Zuspruch der Bevölkerung und begleitet von bewaffnetem Volk ziehen die Innerschweizer Gesandten durch die Gemeinden bis nach Sitten hinunter. Der Landrat protestiert zunächst, gibt dann aber eingeschüchtert nach.20

      Gestärkt durch die plebiszitäre Aufwallung, setzen der Bischof, das Domkapitel und die vier oberen Zenden 1604 mit dem sogenannten »Visper Abschied« im Landrat ein Verbot reformierter Glaubenspraktiken im Wallis durch. Die Reformierten werden aus der Regierung und aus allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Sie müssen sich zum Katholizismus bekennen, ansonsten droht ihnen die Ausweisung. Reformierte Bücher und Schriften werden untersagt, der Besuch auswärtiger protestantischer Schulen verboten. Walliser Schüler und Studenten, die in grosser Zahl protestantische Institutionen in Bern, Genf, Zürich und Basel besuchen, werden heimgerufen. Die Beschlüsse sind rigoros und bringen das Land nahe an eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen oberen und unteren Zenden. Schliesslich kommt es jedoch zu einem Kompromiss und der Duldung der Protestanten. Darüber hinaus jedoch misslingt 1604 der Versuch, das Wallis in die Linie der katholischen Orte einzureihen. Diese wollen das Wallis in das erneuerte Bündnis von Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg und Appenzell Innerrhoden mit Spanien einbeziehen. Die oberen Zenden unter der Führung Brigs, die auch wirtschaftlich von der Lombardei abhängen, drängen wegen der geografischen und konfessionellen Nähe und auch aus handelspolitischen Gründen auf den Beitritt. Die nach Frankreich orientierten und – vom Salz abgesehen – wirtschaftlich weniger abhängigen unteren Zenden stellen sich jedoch dagegen, auch weil Bern damit droht, für diesen Fall gegenüber der Festung von Saint-Maurice bei der steinernen Brücke am Eingangstor zum Wallis eine eigene Festung zu bauen.

      Der Ende 1604 gewählte Bischof Adrian II. von Riedmatten bemüht sich um den Wiederaufbau des katholischen Lebens. Luzern schickt katholische Priester als Seelsorger ins Land. Für die Volksmission werden Kapuziner, für den Aufbau der Bildungsstätten Jesuiten gerufen. Jesuitenschulen gibt es ab 1607 an etlichen Orten, zuerst in Ernen, dann bei Siders, in Venthône und bis 1627 in Sitten und Brig. Zeitweise unterrichten sie bis zu 150 Schüler, die sie wie Kaspar Stockalper im katholischen Glauben und in der Treue zu Papst und Kirche festigen. Bischof Adrian II. von Riedmatten ruft aber auch seine Stellung als Reichsfürst über das Fürstbistum Wallis in Erinnerung. Dabei beruft er sich auf die legendäre »Carolina«, jene Schenkung, mit welcher Karl der Grosse um 800 angeblich die geistlichen und weltlichen Grafschaftsrechte über das Wallis dem Bischof Theodul übertragen hatte. Dies löst auf der Seite der Verfechter der weltlichen Landesherrschaft heftige Reaktionen aus, die bald in einem heftigen Gegenschlag münden werden.21

      Während der Schulzeit Kaspar Stockalpers an den Jesuitenschulen ist die Religionsfrage im Wallis also vorerst zugunsten des Katholizismus entschieden, die Reformation auf dem Rückzug und die Rekatholisierung im Gang. Offen bricht hingegen der institutionelle Streit um die fürstbischöfliche Landesherrschaft und die kommunale Herrschaft der Zenden aus. Nach dem Tod des Bischofs Adrian II. von Riedmatten 1613 verlangen Walliser Aristokraten, welche die bischöfliche Landeshoheit stets angefochten hatten und sich »Patrioten« nennen, dass der Bischof nun sämtliche weltlichen Machtbefugnisse aufgibt. Nach längerem Streit unterschreiben Würdenträger des Domkapitels schliesslich eine Wahlkapitulation, in der auf die »Carolina« verzichtet wird, das heisst auf alle weltlichen Rechte, die der Fürstbischof von Sitten durch die Jahrhunderte über das Wallis ausgeübt hatte. Der Bischof behält zwar den Titel des Reichsfürsten, seine politische Rolle wird jedoch auf Ehrenrechte wie den Vorsitz im Landrat beschränkt. Die sieben Zenden konstituieren sich damit als Verband unabhängiger Kommunalitäten und bezeichnen sich bald als freie, demokratische »Republik Wallis«. Der Landrat wählt danach den 27-jährigen Gelehrten Hildebrand Jost zum Bischof. Dieser jedoch denkt nicht daran, auf seine Herrschaftsrechte zu verzichten, und liefert sich ein stetiges Seilziehen mit dem Landrat und dem Landeshauptmann. Sein Versuch, den Erlass zu beseitigen, gipfelt 1619 in offenem Aufruhr und der