Man war vergessen. Es gab keinerlei soziale Absicherung für die Schaustellerinnen, denn als nichts anderes wurden sie gesehen. Ihr Lebensabend war düster und elend. Der letzte Akt begann bei Antonie Mansfeld mit dem Tod ihres Liebhabers. Als 1869 ihr ständiger Klavier- und Lebensbegleiter Ferdinand Mansfeld nach langer Krankheit starb, musste sie mit übler Nachrede fertig werden. In der Todesanzeige hatte sie zwar, wie eine anständige trauernde Witwe, den »unersetzlichen Verlust« beklagt, aber eben nicht nur das. Da sie sich die Ausgaben für eine zweite Anzeige sparen wollte, teilte sie innerhalb der Parte gleich mit, dass sie in drei Tagen wieder aufzutreten gedenke und zwar mit »ganz neuen Liedern«, offenbar aus dem Nachlass des Verstorbenen. Für die damalige Zeit galt das als skandalös, da die Trauerzeit für Witwen sehr ernst genommen wurde und mindestens zwei Jahre umfasste, in denen man praktisch nicht aus dem Haus ging. Im ersten Jahr der »tiefen Trauer« war nur schwarz zu tragen, dann ging man ein halbes Jahr in »Halbtrauer« (schwarz, grau und weiß) und anschließend sechs Monate in »Austrauer« mit den erlaubten Kleiderfarben schwarz, grau, weiß und mauve. Und diese Sängerin, zwar keine richtige Witwe, da sie nie verheiratet war – aber in so einem Fall hätte es der Anstand erst recht verlangt, den Schein zu wahren – trat drei Tage nach dem Ableben des Gefährten wieder vor Publikum und sang zotige Lieder. Die pietätlose Reklame wurde als Geschmacklosigkeit schwer gerügt, doch die geschäftstüchtige Antonie Mansfeld war um Widerworte nicht verlegen: »Das macht ihn a nimmer lebendig, und so geht’s eben in an Aufwaschn«, soll sie gesagt haben. Außerdem war sie gezwungen, weiterhin ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ein neuer »Bruder« musste her. Er fand sich in Gestalt des jungen gesellschaftskritischen Johann Sioly. Der Violinspieler und Pianist war fünf Jahre jünger als die Mansfeld, schuf über tausend (Heurigen-)Lieder (darunter Des hat ka Goethe gschriebn) und führte den signifikanten Beinamen »Strauß des Brettls«. Er trat die Nachfolge des Ferdinand Mansfeld an und begleitete Antonie am Klavier und ins Bett. Die Nummern, die er für sie schrieb, waren etwas gemäßigter im Ausdruck, doch beinahe ebenso erfolgreich wie ihr Standardrepertoire. Sie schaffte es, auch damit gut anzukommen und punktete weiterhin bei Kritik und Publikum. Die Volkssängerin plante »ehrbar« zu werden und wollte Sioly heiraten. Doch sie erkrankte, veränderte sich stark im Wesen und begann das Geld zum Fenster hinauszuwerfen, obwohl sie früher die Sparsamkeit in Person gewesen war. Sogar ein eigenes Haus hatte sie sich kaufen können. Ihr Geist verwirrte sich. Am 1. Mai 1873, als in Wien die große Weltausstellung mit der Rotunde im Zentrum eröffnet wurde, musste sie in die »Privatirrenanstalt« in Lainz eingeliefert werden. Sie lebte dort noch zwei Jahre und starb mit 39 Jahren in geistiger Umnachtung. Das Illustrirte Wiener Extrablatt hatte noch geschrieben: »Selbst im gegenwärtigen Zustande des Irrsinns singt und jodelt sie wilde Wahnsinnslieder. Reminiszenzen an entschwundene Tage, die hin und wieder aus der Nacht des Geistes wie ein Wetterleuchten hervorbrechen.«
Wie seine Musik war auch Johann Sioly selbst nur vordergründig »lustig«. Während seine Verleger mit seinen Kompositionen ein Vermögen verdienten, bekam er selbst für ein Stück nur 2 bis 4 Gulden. Von Natur aus ein verschlossener Mann, vergrämten ihn die diversen Enttäuschungen immer mehr, bis er 1911 in bitterer Armut starb.
Die Favoritin
Obwohl eine Zeitlang schlichte, unauffällige Kleidung für Volkssänger und Volkssängerinnen vorgeschrieben war, um sie von den Schauspielern an den Theatern, die in Kostümen auftraten, unterscheiden zu können, hielt sich eine nicht daran. Die Unterhaltungsprogramme durften nicht länger als bis 23 Uhr dauern. Dies war Emilie Turecek egal, denn um diese Zeit ging es für sie erst richtig los. Als Frau war es ihr nicht gestattet, in langen oder gar kurzen Hosen aufzutreten. Sie besorgte sich sogar eine polizeiliche Bewilligung für ein enganliegendes Reitkostüm. Die Gerte in der Hand, gestiefelt und gespornt, enterte sie die »Brettln« von Wien. Ihre Namen: unehelich geboren als Emilie Turecek, nach der Hochzeit ihrer Mutter Anna Turecek mit dem Vater Michael Pem(m)er: Emilie Pemmer, als verheiratete Frau: Emilie Demel. Bis heute kennt man sie als »Fiaker-Milli«, Sängerin und Kurtisane.
»Milli« war die Abkürzung für Emilie und der »Fiaker« kam von ihrem Ehemann. Er hieß Ludwig Demel, Kutschenunternehmer. Auch nach ihrer Heirat fand keiner der berühmten Fiakerbälle ohne sie statt. Dieses besondere Tanzvergnügen wurde alljährlich am Aschermittwoch abgehalten – Blasphemie – mit der Milli in roten Strumpfbändern und interessanten Dessous. Auch fand kaum ein Wäschermädelball ohne ihren Auftritt statt. In Lerchenfeld sprengte sie bei einem solchen die Quadrille und begann einen freizügigen Cancan in der Mitte des Saales.
Bis heute gibt es ein Parfum des traditionsreichen französischen Hauses Caron mit dem Namen »French Cancan«. Der Cancan kam aus Paris und war der skandalöseste Tanz der Epoche. Er wurde in den Varietés, Kabaretts und Revuetheatern aufgeführt und erfreute sich besonderer Beliebtheit, da die Zuseher bei den typischen hohen Beinwürfen und Spagatsprüngen den Tänzerinnen unter die Röcke schauen konnten. Die Unterhosen für Frauen waren damals zwischen den Beinen offen … Es soll Etablissements gegeben haben, in denen die Cancan-Tänzerinnen unter den Kleidern lediglich Strumpfbänder trugen. Der Tanz wurde polizeilich verboten, was seiner Popularität keinen Abbruch tat, sondern seinen fragwürdigen Ruf eher noch steigerte. Die bürgerliche Gesellschaft verachtete – zumindest nach außen hin – die in den frühen Strip-Lokalen auftretenden Frauen und fand deren Darbietungen »leichtlebig« und »unanständig«, doch gab es in den Zuschauerräumen der »Moulin Rouges« nicht wenige biedere Familienväter mit leuchtenden Augen und Schweißperlen auf der Stirn: »Es ist interessant, welche unglaubliche Wirkung ein nacktes oder auch bestrumpftes Bein einer Cancan-Tänzerin beim männlichen Publikum hervorrufen konnte«, so ein Chronist. In einer zeitgenössischen Beschreibung hieß es: »Sorglosigkeit und Ungeniertheit herrschen hier ununterbrochen.«
In Wien gab es also wieder einen Skandal und somit stand die »Fiaker-Milli« im Rampenlicht. Sie war überall dort anzutreffen, »wo es a Hetz und a Gaudi« (Josef Koller) gab. Fesch und übermütig wie sie war, stellte sie alles auf den Kopf. Die Turecek war die am meisten begehrte, angebetete und bewunderte, von den braven Leuten am meisten geschmähte Frau von Wien. In manchen Darstellungen zu Wiens Volkssängern fehlt ihr Name gänzlich, obwohl sie sich, im Unterschied zu einigen anderen, gern Volkssängerin nannte oder als solche bezeichnen ließ. Hans Hauerstein schreibt in seiner Chronik des Wienerliedes, dass diese Bezeichnung bei ihr »mit Vorsicht zu gebrauchen« sei, da sie »nichts anderes war als die schönste Halbweltsdame von Wien«. Es stimmt, dass »alle Lebemänner und alle Lebegreise« ihr zujubelten. Man ging eben nicht »zum Sperl«, sondern »zur Turecek«. Das »Sperl« (richtig: Sperlbauer) lag im 2. Bezirk in der heutigen, nach diesem Lokal benannten, Sperlgasse. Die dort auftretenden Damen, wenig vornehm als »Sperlfetz’n« tituliert, machten das Etablissement zu einem Treffpunkt der Halbwelt. Es war vor 1850 ein Vergnügungslokal mit Musikunterhaltung gewesen, dem Johann Strauß Vater die Sperl-Polka widmete. Später büßte das Haus zwar an Ansehen ein, der Zuspruch blieb jedoch aufrecht. Das Publikum hatte sich allerdings verändert. Die »bessere Gesellschaft« glänzte durch Abwesenheit, die Lebewelt bezog ihr neues Revier. Emilie Turecek hatte weibliche und männliche Anhänger zuhauf und ganze Kolonnen von Zeugln oder Fiakern standen vor den Etablissements, in denen sie sich die Ehre gab. Wo immer sie abstieg, gab es einen Riesenwirbel, verursacht durch ihr überschäumendes Temperament und ihren blindwütigen und oft mehr als lockeren Anhang: »Da flimmerte es vor den Augen«, schrieb ein Augenzeuge in einem zeitgenössischen Bericht. Sie verfügte über schöne sprechende Beinamen wie »Gipfelpunkt der Verruchtheit« oder »Frau Venus von Wien«. Das Lieblingslied der »Milli«-Gefolgschaft hieß treffsicher Ich bin halt noch so unerfahr’n! und eine Strophe lautet:
Wie i am Maskenball bin g’west,
sagt einer: obs’d zu mir hergehst?
Was i nur will, soll i begehr’n,
Champagner und Fasan verzehr’n.
Er lasst mei Hand gar nimmer aus,
und sagt, er führt mi später z’Haus.
Der Antrag macht mi ganz verleg’n,
(…)
Ich bin halt noch so unerfahr’n.
Als Milli 1874 im Hafen der Ehe landete, berichtete