na ja, es ist deine erste große Reportage“, sagt sie nach einer Weile. Sie schaut kurz auf ihren Terminkalender. „Weißt du was? Wir tauschen. Ich übernehme das Behindertenheim und du schreibst die Story über die Flößer. Das ist ein historisches Thema, das geht fürs Erste wahrscheinlich einfacher.“
Levon nickt erleichtert. „Dazu fällt mir etwas ein“, sagt er. „Danke!“
Ana schließt kurz die Augen und nickt.
Seit einer Ewigkeit hocke ich hier am Gang, am kalten Boden, ohne Polster, ohne Stuhl. Da bewegt sich die Klinke. Ich richte mich auf, rutsche auf die Knie. Schwester Miki kommt aus dem Zimmer. Sie sieht mich nicht an. Seit dem Unfall hat sie mir noch kein einziges Mal in die Augen gesehen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden das schon sind. Vielleicht drei, vielleicht zwanzig, vielleicht hundert. Aber es tut weh. Es tut verdammt weh und es ist so ungerecht, dass es schreit in mir.
Wenn man etwas falsch gemacht hat, soll man es gleich zugeben und sich entschuldigen, sagen die Schwestern immer. Dann ist alles wieder gut.
Ich weiß aber nicht, was ich falsch gemacht habe. Ich kann mich auch nicht bei Schwester Miki entschuldigen, wenn sie nicht mit mir spricht und bei Sirup sowieso nicht, wenn sie mich nicht zu ihm lassen. Ich weiß nicht einmal, ob er sprechen kann. Ob er jemals wieder sprechen wird.
Nichts ist gut.
Nichts wird jemals wieder gut.
Schwester Miki läuft wieder an mir vorbei. Sie hat eine Schüssel mit heißem Wasser in der Hand und ein weißes Tuch über dem Arm hängen. Als die Tür aufgeht, sehe ich Schwester Rosa. Sie sitzt an Sirups Bett und hält seine Hand. Die Tür fällt zu und verschluckt sie alle, Sirup, Schwester Rosa und Schwester Miki. Sie brauchen mich nicht. Niemand braucht mich.
KAPITEL 3
Im Geräteschuppen ist es unerträglich heiß. Die Kaninchen sitzen bewegungslos in ihrer Kiste und starren vor sich hin. Ich knie mich auf den Boden und spähe durch die Holzlatten, um besser sehen zu können. Das graugetupfte Kaninchenmädchen liegt lang ausgestreckt auf dem Boden. Nur die kleine Nase bewegt sich schnell auf und ab. Das soll nicht so sein. Etwas ist falsch.
Die Kiste ist falsch. Sie ist für Kartoffeln, nicht für Kaninchen. „Zuerst müssen wir darüber nachdenken, wo sie wohnen sollen“, sagt Schwester Rosa und geht neben mir in die Hocke. „Die Holzkiste ist zu klein für alle drei.“
Es stört mich, dass Schwester Rosa da ist. Das sind meine Kaninchen. Aber es ist immer das Gleiche: Zuerst schenkt sie dir was und dann will sie darüber bestimmen. Sie kann ja schon über das ganze Haus bestimmen, und Schwester Miki muss auch immer machen, was Schwester Rosa sagt, weil Schwester Rosa die Mutter Oberin ist. Da muss sie nicht auch noch die Mutter Oberin im Kaninchenstall sein.
„Du musst gut auf die Hasen Acht geben und den Stall sauber halten, Hovanes“, sagt Schwester Rosa. „Hasen werden leicht krank, wenn sie im Schmutz schlafen. Dann sterben sie.“
Das sind Kaninchen, keine Hasen. Sie weiß nicht einmal, wie die Tiere richtig heißen und dann will sie bestimmen, was ich mit ihnen machen soll. Ich bin kein Kind mehr. Und ich bin nicht blöd.
Ich muss einen Stall bauen. Am besten einen auf Stelzen. Dann kann der Dreck durch das Gitter hinunterfallen und ich brauche nur den Boden zu kehren.
„Ein Mal am Tag musst du sie füttern, Hovanes“, fährt Schwester Rosa fort und steht ächzend auf. „Ich habe Hasenfutter gekauft, das steht dort hinten in der Ecke. Dort liegt auch ein Messbecher. Ein Becher pro Hase reicht. Sonst überfressen sie sich.“
Hasenfutter. Das Zeug sieht aus wie Müsli. Das kann ihnen nicht schmecken. Das ist doch viel zu trocken. Kaninchen brauchen sicher frisches Gemüse. Karotten gibt es genug im Garten. Aber Kaninchen fressen ja nicht nur Karotten. Das glauben nur kleine Kinder und Leute, denen Kaninchen egal sind.
„Hovanes, hörst du mir überhaupt zu?“ Schwester Rosa stemmt die Hände in die Seiten.
Ja. Leider. Du bist ja nicht zu überhören. Aber Schwester Rosa muss man ansehen, wenn sie mit einem spricht. Darauf steht sie.
Ich schaue ihr brav ins Gesicht und nicke.
„Na gut. Jetzt lasse ich dich erst einmal allein mit deinen Schätzen, Hovanes“, sagt Schwester Rosa zufrieden. „Wenn du etwas brauchst, kannst du jederzeit zu mir kommen.“ Sie streicht mir über den Kopf und geht. Wahrscheinlich ins Haus, um Gaya zu quälen. Oder zu ihren Blumen.
Ich muss Gras mähen für die Kaninchen. Und Heu machen. Vor allem für den Winter.
Ich glaube, das wird ganz schön viel Arbeit.
Wenn es nur nicht so heiß wäre … Es ist wie verhext! Die Nägel zu lang, die Bretter zu kurz, alles wird schief. Jetzt habe ich den ganzen Tag geschuftet und der blöde Stall sieht aus wie ein Vogelhaus nach dem Sturm. Ich hätte nie gedacht, dass das so lange dauert.
Wenigstens sind Sommerferien.
Ich mag die Schule, aber in den Ferien sind die Tage friedlicher. Sie sind ohne Stillsitzen und Aufpassen und Aufzeigen und sie gehören mir.
Außerdem haben die Internate zu.
Ich kenne nicht viele Leute, die ins Internat gehen. Eigentlich kenne ich nur Lucine. Lucine musste ins Internat ziehen, weil ihre Schule in der Stadt ist. Sie kommt nur mehr selten heim und wenn sie heimkommt, besucht sie uns trotzdem nur manchmal. Aber jetzt hat das Internat zu und sie wohnt ganz hier bei ihren Eltern. Da hat sie Zeit, Eis zu essen und ihre Freunde zu besuchen, jeden Nachmittag, so oft sie will.
Meistens ruft sie nicht einmal vorher an. Wenn jemand zu Besuch kommen will, muss er immer zuerst Schwester Rosa anrufen. Sonst sagt Schwester Rosa: „Es tut mir leid, wir empfangen gerade keinen Besuch, bitte melden Sie sich vorher an.“
Bei Lucine sagt sie das nie. Lucine kann einfach so kommen. Das hat sie schon immer so gemacht, schon im Kindergarten. Gestern hat sie trotzdem angerufen. „Ich komme morgen vorbei“, hat sie zu Schwester Rosa gesagt. „Irgendwann am Nachmittag.“
Jetzt ist es schon drei Uhr.
Aber das macht nichts. Lucine kommt bestimmt. Tiko und Eilis warten schon seit dem Mittagessen vor dem Haus. Tiko hat sich geweigert, ihr Mittagsschläfchen zu halten.
Ich würde auch lieber im Schatten unter dem Vordach sitzen. Mir ist heiß. Aber zum Sitzen ist keine Zeit. Den Kaninchen ist auch heiß in ihrem dicken Fell. Und im Geräteschuppen ist es stockdunkel. Sie haben sicher Angst. Sie brauchen endlich einen Stall.
Die Glocke schrillt. Tiko springt auf und sprintet zum Tor. Da läutet es schon wieder.
Zwei Mal kurz, ein Mal lang.
Lucine.
Ich sammle die verbogenen Nägel ein und richte mich auf. Uff, mein Rücken tut so weh …
KABUMM! – die Tür. Und Sirup rennt. Dieses Mal kommt er zu spät. Er rennt trotzdem. Die Schottersteine fliegen unter dem Druck seiner Schuhe in alle Richtungen davon. Es ist ohrenbetäubend laut. Ein Stein fliegt direkt in Schwester Rosas Blumenbeet.
Sirup überholt Tiko genau vor dem Tor. Tiko schimpft, ganz leise, sie braucht ihre Luft zum Laufen.
„Immer machst du Unangenehmheiten!“, zetert sie.
Zu dritt kommen sie um die Ecke. Lucine streichelt Tikos Hand. Sirup macht ganz große Augen. Er redet wie der Nachrichtensprecher im Radio. Nur schneller.
„Und wir haben Hasen bekommen! Wir bauen einen Stall!“ Seine Stimme überschlägt sich.
Wir bauen einen Stall. Na klar. Das Einzige, was Sirup produziert, ist heiße Luft.
Sirup fuchtelt mit Händen und Armen. Er zeigt Lucine, wie groß die Kaninchen sind. So wie er die Arme streckt, sieht