einer jungen Volontärin, die nach einem Jahreseinsatz sagte: »Ich bin gekommen, um zu helfen. Viel mehr aber wurde mir geholfen.« Sie weiß jetzt, wie gut es ihr geht, wie reich sie ist und dass sie die Kraft hat, Leben zu retten. Ihr neues Selbstbewusstsein verdankt sie den Rabenkindern.
Die Rabenkinder fordern, aber viel mehr noch schenken sie, was wir nicht kaufen können. Einen Frieden, den die Welt nicht geben kann. In unserer Krippe liegt in diesem Jahr ein Rabenkind, mit dem wir leben lernen müssen. Es hilft uns in Europa, Mensch zu werden.
Von der kreativen Kraft des Selbstzweifels
Welche Brüche meiner Biografie stellen meine Identität
infrage? Welche Kräfte können sie freisetzen?
Dominik Markl
Als Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war,
um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen …
JOHANNES 13,1
Charlie Chaplin, die wohl strahlendste Ikone des Humors im 20. Jahrhundert, erlebte eine Kindheit voller Traumata. Sein Vater war Alkoholiker und vernachlässigte die Kinder. Die alleinerziehende Mutter Hannah war so mittellos, dass Chaplin mit sieben Jahren in einem Londoner Workhouse arbeiten musste. Er wurde von seiner Mutter getrennt, kam in ein Waisenhaus, wurde misshandelt. Mit neun Jahren musste er erleben, wie Hannah erstmals eine Psychose erlitt, wohl verursacht durch schlechte Ernährung und Syphilis. Mit zwölf verlor Charlie seinen Vater; für Monate fühlte er sich vor Trauer unfähig zu atmen. Mit vierzehn musste er Hannah endgültig ins Irrenhaus bringen und ihr Schicksal akzeptieren. Inmitten dieses Desasters von Armut und Schicksalsschlägen entwickelte Chaplin sein Talent und seinen festen Willen, Komödiant zu werden. Als Achtzehnjähriger erlebte er seine ersten größeren Bühnenerfolge in London, sechs Jahre später folgte sein Filmdebüt in Los Angeles. Während des Ersten Weltkrieges brachte er die Welt als »The Tramp« zum Lachen, während des Zweiten Weltkriegs verhöhnte er in The Great Dictator Hitler als Adenoid Hynkel und Mussolini als Benzino Napaloni. Wie konnte ein in seiner Kindheit zutiefst traumatisierter Mensch zum Inbegriff intelligenten Humors und in Krisenzeiten der Aufheiterung der Menschheit werden?
Wenn man der Biografie des Filmkritikers John McCabe Glauben schenken darf, erinnerte sich Chaplin an eine Kindheitsszene von symbolischer Bedeutung. Mutter Hannah, von der Chaplin als überaus feiner und gebildeter Frau sprach, habe dem kranken Kind aus den Evangelien vorgelesen. Jesu Ausruf am Kreuz »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!« erklärte sie als Ausdruck seiner Menschlichkeit, da selbst er Zweifel gehabt habe – worauf Hannah und Charlie gemeinsam weinten. Was an diesem Tod so bewegend ist − die dramatische Spannung zwischen Todesangst und vollkommener Hingabe –, fasst der Evangelist Johannes in einem einzigen Vers zusammen. »Als Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war« − kein selbstsicheres und bequemes Wissen, sondern voller kaltem Schweiß der Todesangst –, »liebte er die Seinen bis zur Vollendung.« Die totale Infragestellung seines menschlichen Lebens befähigt Jesus zur absoluten Liebe. Transformierte Selbstzweifel finden sich in den Berufungsgeschichten aller biblischen Propheten. Mose, der behauptet, nicht reden zu können, wird zum größten Redner der Bibel. Jeremia hält sich für zu jung, als Gott ihn zum Propheten für die Nationen erklärt.
Selbstzweifel finden sich in den Biografien aller Genies. Chaplin hielt sich zwar für den größten Schauspieler der Welt, war aber letztlich von fehlender Selbstsicherheit und daraus resultierendem Perfektionismus getrieben. Erst an seinem siebzigsten Geburtstag war er zum Gedicht Als ich mich selbst zu lieben begann fähig – ein Ausdruck seiner Versöhnung mit dem eigenen Leben. Welche Brüche meiner Biografie stellen meine Identität infrage? Welche kreativen Kräfte können sie freisetzen?
Liebe, die etwas will
Mein Arbeiten, mein Engagement verfolgen ein Ziel.
Was will ich erreichen?
Josef Steiner
Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte,
erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung.
JOHANNES 13,1
Lebensfroh, dynamisch und liebevoll verabschiedete er sich von seiner Frau – zum Sport. Reanimiert nach achtzehn Minuten, im Koma auf der Intensivstation liegend fand sie ihn wieder – Herzstillstand. Realistische Einschätzung der Ärzte oder die Antwort der Liebe, das war jetzt die Frage. Die Frau entschied sich für das Zweite. Sie begann mit ihrem Mann zu arbeiten wie mit einem Neugeborenen. Noch während er im Koma lag, begann sie, sein Erinnerungsvermögen mit gezielten Sinnesreizen anzuregen: Sie spielte ihm seine Lieblingsmusik und Naturgeräusche vor; hielt ihm Buntpapier mit dem Gelb der Sonne und dem Blau des Himmels vor die Augen; ließ ihn auf einem Stofftaschentuch Gerüche von Flieder und Vanille riechen; legte ihm Prisen von Salz und Zucker auf die Zunge; gab ihm einen Wattebausch, einen Stein in die Hand; massierte an seinen Fußsohlen die Reflexpunkte »Gehirn«; sie beugte und streckte am Tag hundert Mal langsam seine Gelenke. Als er wieder bei Bewusstsein und zurück im gewohnten Lebensraum war, brachte sie Hilfen zur Orientierung an, »Küche«, »Toilette«, ging klug mit seinen Verwirrtheiten um und reagierte einfühlsam auf seine überraschenden Gefühlsausbrüche. Mit einfachen Reimen, mit Gegensatzworten, mit Bild-Wort-Karten, mit Gedächtnis- und Konzentrationsübungen führte sie ihn behutsam zum Wiedererlernen von Sprache, zum Sätzebilden, Telefonieren. In jahrelanger Arbeit brachte sie ihren Mann so weit, dass er in Begleitung ausgehen, im Kaffeehaus die Zeitung lesen und an den Geschehnissen um sich herum wieder teilnehmen konnte. Ihre Liebe hatte ein Ziel: »… und morgen ist die Nacht vorbei.« Und sie erreichte es.
Das Tun dieser Frau zeigt, wie Jesus die Seinen geliebt hat. Er will aus ihnen etwas machen: eine menschliche Elite, geistige Führungskräfte, die mit ihm Spuren suchen und Spuren legen, wie Gott sich die Welt und die Menschen darin vorstellt. Sie sollen mit ihm lernen, nicht die Welt zu richten, über ihr zu stehen, am allerwenigsten, sie zu verlassen, sondern sie zu retten, Wege zu einem gerechten und friedlichen Miteinander zu finden. Schritt für Schritt, wie Kinder nimmt er sie mit in sein Werk. Er lehrt sie mit seinen Worten, von Gottes Mitgehen und seiner Nähe in Gleichnissen zu erzählen. Er überträgt ihnen seine Energie zu heilsamem Verhalten. Er nimmt ihre Fragen ernst, erträgt ihre Langsamkeit, auch ihre Angst und Feigheit. Jetzt, am Ende seines Lebens, kommt seine Liebe zur Vollendung. »Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung.« Er wird ihnen die Füße waschen, damit sie fortan ohne ihn gehen lernen. Er hat sein Ziel erreicht.
Ob die Liebe zur Natur, zu den Tieren, zur Bibel, zu einem Menschen – immer geht es um die Frage: Wozu? Jedes Engagement, jeder Einsatz verfolgt ein Ziel. Was will ich mit meiner Liebe?
Wovon bittere Kräuter
und vier Becher Wein erzählen
Was unterscheidet ein Essen vom Mahl? Wenn die
Freiheit mit allen Sinnen verkostet wird.
Georg Sporschill
Es fand ein Mahl statt.
JOHANNES 13,2
Das Geburtstagskind, Kathi aus Vorarlberg, strahlt inmitten der neuen Gemeinschaft, die sich nach zwei Monaten im siebenbürgischen Dorf Hosman/Holzmengen nun schon in unserem Hof versammelt hat. Unsere rumänischen Mitarbeiter sind trotz Fastenzeit gekommen, um zu gratulieren. Zwischen Schutt und Baumaterial haben wir Tische aufgestellt und mit Frühlingsblumen geschmückt. Zum Essen kommen ein paar rumänische Jugendliche aus dem Dorf, zwei unserer Schützlinge aus Bukarest, eine junge Familie und Freiwillige aus Österreich, Deutschland, Lettland. Endlich kommt auch Ruth von der Arbeit. Nun sitzen alle am Tisch. Welche Sprache werden wir sprechen? Was gibt es zu reden? Danciu mit dem schwarzen Hut und Ica im prächtigen Faltenrock und mit roten Bändern in den langen Zöpfen werden zu Lehrern und erzählen Geheimnisse aus ihrer kleinen Volksgruppe, den Cortorari, den Zeltzigeunern.
Es gibt Wein und Wasser aus unserem Ziehbrunnen. Wir alle