»Durch die Kanalisation.«
Dass wir daran nicht gedacht hatten! In der Kanalisation gab es jede Menge Ost-West-Verbindungen.
»Er hatte Kontakt mit Studenten im Westen. Die haben die Flucht organisiert. ›Unternehmen Reisebüro‹ nennen sie sich. Sechs Leute können jeweils rüber. Und dann haben sie noch einen Helfer, der den Gullydeckel wieder zumacht, wenn die anderen drunten sind. Es läuft nämlich so, dass man in der Nacht nicht weit von der Grenze in die Kanalisation einsteigt. Im Westen wartet dann einer, der einen aus dem Labyrinth rausführt.«
Das klang ebenso einfach wie einleuchtend.
»Und warum bist du nicht mitgegangen?«, konnte ich mich nicht enthalten zu fragen.
Wieder kamen ihr die Tränen.
»Wir beide sind als Letzte zu der Gruppe gestoßen, und da waren sie schon zu fünft: vier Frauen und ein Mann. Also konnte nur einer von uns mit, und sie haben sich für meinen Freund entschieden.«
Ich war unschlüssig. Sollte ich ihr verraten, dass auch mein Bruder und ich fliehen wollten? Vielleicht könnten wir sie ja mitnehmen? Andererseits kannte ich sie nicht … Dass sie sich mir, einem völlig Fremden, anvertraute, war mehr als unvorsichtig. Oder aber es verhielt sich so, dass sie für die Stasi arbeitete und mich aushorchen wollte.
»Ich stehe jetzt auf der Warteliste«, fuhr sie fort.
»Es sind also noch weitere Fluchten durch die Kanalisation geplant?«
Sie nickte.
Ich konnte es kaum fassen – das war ja gerade, als bekäme man die ideale Lösung auf dem Tablett serviert.
»Wann die nächste Gruppe geht, weiß ich aber nicht.«
»Störe ich?«
Ich fuhr zusammen und sah dann zu meiner Erleichterung, dass Rolf neben unserem Tisch stand. Erst jetzt wurde mir klar, dass das Mädchen und ich die ganze Zeit die Köpfe zusammengesteckt hatten.
Sie starrte Rolf an und schlug die Hand vor den Mund.
»Keine Sorge, das ist mein Bruder«, sagte ich.
»Tut mir leid, dass ich verspätet bin.« Rolf wollte sich neben mich setzen.
»Warte, wir gehen besser woandershin.« Ich stand auf.
Hier unsere Flucht besprechen, mit Wolfgang Wichser in ein paar Metern Abstand, war undenkbar.
»Ich geh dann mal.« Auch das Mädchen erhob sich.
»Komm doch mit.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich muss nach Hause, wirklich. Es ist schon spät, und ich muss morgen früh raus, arbeiten.« Sie nahm ihre Tasche. »Danke fürs Zuhören.«
Sie lächelte mich an, schien einen Moment zu überlegen, ob sie mir die Hand geben sollte, ließ es aber und ging zur Tür.
»Warte!« Ich rannte ihr nach.
Draußen packte ich sie am Arm. Als sie mich erschrocken ansah, ließ ich sie los.
»Wir wollen auch fliehen!«, stieß ich hervor. »Geh jetzt nicht weg, bitte!«
Mit großen Augen sah sie mich an, den Blick voller Zweifel.
»Vielleicht können wir einander ja helfen. Ich heiße Julian. Julian Niemöller.« Dass es riskant war, nach dieser Eröffnung meinen Namen zu nennen, war mir klar. Falls sie für die Stasi arbeitete, würde ich in Teufels Küche kommen. Aber falls nicht, sah sie darin vielleicht einen Vertrauensbeweis.
»Ich muss nach Hause.«
»Dann lass uns ein andermal weiterreden, ja?« Fast schon flehentlich sah ich sie an.
Sie überlegte einen Augenblick.
»Kennst du den Friedhof an der Boxhagener Straße?«, fragte sie.
Ich nickte. Wo die Boxhagener Straße war, wusste ich. Und den Friedhof würde ich schon finden.
»Kommenden Sonntag um sieben abends.«
»Gut, mein Bruder und ich werden da sein.«
»Aber jetzt … muss ich wirklich …«
»Ich sage keinem ein Wort, du kannst dich auf mich verlassen.« Sie lächelte mir flüchtig zu, dann ging sie davon.
»Was war das denn?« Rolf stand hinter mir.
Breit grinsend drehte ich mich um. »Wir haben eine Verabredung«, sagte ich. »Nächsten Sonntag um sieben auf dem Friedhof an der Boxhagener Straße. Dort erfahren wir mehr über den genialsten Fluchtplan aller Zeiten.«
Rolf machte eine skeptische Miene.
»Komm, wir gehen zu dir«, sagte ich. »Dann erzähle ich dir von dem Mädchen, das Heike ähnlich sieht, aber nicht Heike ist.«
VIERZEHN
Es war ein Tag zum Ersticken. Was das Wetter betraf und auch sonst. Der Himmel war verhangen, aber unter der Wolkendecke herrschte eine Schwüle, als könnte jede Minute ein Gewitter losbrechen. Mir war, als wäre nicht nur die Luft um mich herum, sondern auch mein Inneres elektrisch aufgeladen.
Heute waren wir mit dem blonden Mädchen auf dem Friedhof verabredet. Falls ihr zu trauen war, würde sie dort auf uns warten. Falls nicht, jemand von der Stasi.
Die Woche hatte sich zäh und langsam hingezogen, und heute wollte die Zeit überhaupt nicht vergehen. Im Gottesdienst am Vormittag hatte ich mich fortwährend umgesehen, nach Männern Ausschau gehalten, die mich eventuell verfolgten, weil etwas durchgesickert war. Aber da war niemand, weder in der Kirche noch auf dem Nachhauseweg. Irgendwie überstand ich das Mittagessen, zu dem Frau Schulze sich selbst eingeladen hatte, und zog mich dann in mein Zimmer zurück, um Schallplatten zu hören. Auf dem Bett liegend, ließ ich zur Musik sämtliche Erinnerungen an Heike vor meinem inneren Auge vorbeiziehen. Es kam mir vor, als hätten wir uns vor einer Ewigkeit das letzte Mal gesehen, und meine Sehnsucht nach ihr wurde so groß, dass die Brust schmerzte.
Kurz vor dem Abendessen kam Rolf, und Mutter freute sich so über den unerwarteten Besuch, dass außer ihr kaum jemand zu Wort kam. Sie redete ohne Punkt und Komma über alle möglichen Alltagsdinge. Was sie beim Bäcker gehört hatte … dass sie beim Fleischer eine geschlagene Stunde anstehen musste, dann aber tatsächlich Koteletts bekommen habe … dass die Tochter und der Schwiegersohn von Frau Katzenberg endlich Aussicht auf eine Wohnung hätten und deshalb nicht mehr lange mit dem Baby bei ihr wohnen müssten …
Wem wird sie all das erzählen, wenn wir beide nicht mehr da sind?, dachte ich unwillkürlich. Vater? Franziska? Frau Schulze? Ein Schuldgefühl wollte sich breitmachen, aber ich ließ es nicht zu. Mein Entschluss stand fest, es gab kein Zurück mehr.
Nach dem Essen zogen wir los. Mutter fragte überhaupt nicht, was wir vorhatten; wahrscheinlich glaubte sie, ihre Söhne gingen noch kurz auf ein Bier.
Draußen war es noch drückender als am Vormittag. Der Himmel war lila, und Böen trieben dicht am Boden erstes Herbstlaub durch die Straßen.
Beim Friedhof angekommen, öffnete Rolf das eiserne Gittertor. Es quietschte nicht, was es in einem Film sicherlich getan hätte. Und in einem Film wären wir natürlich verfolgt worden. Aber auch das war nicht der Fall; ich hatte mich auf dem Weg hierher immer wieder umgeblickt. Dennoch war mir unbehaglich zumute.
Der Friedhof machte einen gepflegten Eindruck. Auf den Grabplatten lag kein Laub herum, und auf vielen Gräbern standen frische Blumen oder brannten ewige Lichter. Eine Baumreihe schloss das Gelände zur Straße hin ab, sodass man nicht das Gefühl hatte, sich mitten in einer Großstadt zu befinden. Und es war ungewöhnlich still, nicht einmal Vogelgezwitscher war zu hören. Das blonde Mädchen saß auf einer Bank an einem Nebenweg. Mit einem etwa dreißigjährigen Mann in blauer Arbeitshose und einem schmuddeligen Pullover.