Stimme war aus Stahl. Ich wusste, dass gegen diese Stimme nichts auszurichten war. Ich musste warten, bis sie ihre normale Stimme wiederhatte.
Ich trottete nach oben. Aber sie blieb unten stehen.
»Kommst du nicht mit, Mama?«
»Geh in dein Zimmer.«
Ich betrat den Flur, ging aber nicht hoch in die erste Etage. Stattdessen verbarg ich mich hinter der halb geöffneten Tür, sodass sie mich nicht sehen konnte. Von dort aus beobachtete ich, was sie tat.
Zuerst stand sie ganz still. Gedankenverloren blickte sie sich um. Dann ging sie zu einem großen Schrank in der Ecke. Sie kickte ihre Klackerschuhe zur Seite und begann, den Schrank zur geschlossenen Tür zu ziehen. Offenbar war das ziemlich schwer, denn sie keuchte laut und ihre Haare hingen wirr zur Seite. Sonst war Mama immer frisch gekämmt und gebügelt, mit Lippenstift auf den Lippen – und nie auf den Zähnen.
Bald hatte sie den Schrank bis zur Tür bewegt. Sie stellte ihn direkt davor, sodass die Öffnung vollständig verdeckt war und niemand sehen konnte, dass sich dort eine Tür befand. Dann nahm sie die Schuhe in die Hand und ging schnell die Treppe hoch.
Ich schnellte vor und hoffte, sie würde nicht merken, dass ich spioniert hatte. Zum Glück machte sie nicht den Eindruck.
Erst jetzt sah sie mich richtig an.
»Ich habe mir ein bisschen die Haare geschnitten«, sagte ich – für den Fall, dass sie sich fragte, was passiert war.
»Gerda …«, sagte sie, merkwürdigerweise nicht mit ihrer Stahlstimme. Ihre Stimme klang eher nach Baumwolle. »Ist doch ganz schön, oder?« Ich versuchte, sie anzulächeln.
Sie lächelte nicht zurück, nahm nur meinen Arm und schob mich Richtung Küche, ohne ein Wort zu sagen.
Komisch, dass sie nicht wütend wurde. Es schien, als würde sie an etwas anderes denken. Und das tat ich auch. Ich dachte an die Stimmen. Wer sprach da unten im Keller? Waren es dieselben, die Lebensmittel aus unserer Speisekammer stahlen?
Ein merkwürdiges Mittagessen
Das Mittagessen an diesem Tag war irgendwie merkwürdig. Aber es war nicht das Essen selbst, das merkwürdig war. Erst zum zweiten Mal in dieser Woche gab es – wie gesagt – gebratene Steckrüben, etwas ganz Gewöhnliches also. Und dazu Kartoffeln. Es gab immer Kartoffeln.
Das Merkwürdige waren Mama und Papa. Sie waren nicht böse darüber, dass ich Otto geschubst hatte. Und auch nicht darüber, dass ich mir die Haare abgeschnitten hatte. Sie waren nur schweigsam. Keiner von beiden setzte sich ordentlich hin. Sie aßen schnell, auf der äußersten Kante des Stuhls. Hin und wieder warfen sie sich einen ausdruckslosen Blick zu. Und wenn Autos vorbeifuhren, zuckten sie ein bisschen zusammen.
Plötzlich zuckten sie sehr zusammen. Denn eines der Autos fuhr nicht vorbei, sondern hielt auf dem Hof an.
Kurze Zeit später klingelte es an der Tür.
Otto und ich sprangen beide vom Tisch auf und erreichten gleichzeitig die Haustür. Draußen stand Johan. Im Auto hinter ihm saß Herr Dypvik, sein Vater, den wir alle nur Dypvik nannten. Aus dem Autofenster stieg Zigarettenrauch auf.
Johan zeigte, was er in der Hand hielt.
»Das ist ganz neu.«
»Oh«, sagte Otto. »Schön.«
Es war ein glänzendes Fahrtenmesser, richtig klasse, mit frisch poliertem Holzgriff und einer scharfen Klinge.
»Wollen wir Münzen ditschen?«, fragte Johan.
»Ja!«, sagte Otto.
Das Messer war wirklich schön – ich verstand gut, dass er Ja sagte, obwohl Otto im Ditschen ziemlich schlecht war. Aber das war Johan auch, da glich es sich wieder aus.
Plötzlich stand Papa da. Er drückte sich an Otto vorbei. »Ich dachte, wir hätten dir gesagt, dass du nicht mehr hierherkommen sollst?«, sagte er zu Johan.
»Aber ich dachte …«
»Du kannst deinem Vater einen schönen Gruß bestellen und ihm sagen, dass wir keine Kinder von Nazis bei uns zu Hause haben wollen«, unterbrach ihn Papa. Er nickte Richtung Auto, in dem Dypvik saß.
Johan antwortete nicht. Er drehte sich um und ging mit hängendem Kopf zurück zu seinem Vater.
Dypvik kam heraus und öffnete seinem Jungen die Tür. Er hatte seine dunkelblaue Uniform an. Er half Johan in den Wagen und tätschelte ihm den Kopf. Dann wandte er sich uns zu. Er warf Papa einen schrecklichen Blick zu, der schlimmer war als Ottos Schlangenblick. Papa starrte zurück. Während sie sich ohne ein Wort ansahen, schien etwas zwischen diesen beiden erwachsenen Männern zu passieren – etwas, das mein Herz erstarren ließ. Dann knallte die Wagentür zu, und Dypvik und Johan fuhren davon.
Papa schloss die Tür langsam und streckte Otto eine Hand entgegen.
»Otto, mein Junge, du verstehst doch, dass …«
Doch Otto drehte sich jäh um und lief hinauf in unser Zimmer.
Ich blieb mitten im Flur stehen und begriff nicht allzu viel. Aber rund um mein Herz war es immer noch kalt.
»Der Vater von Johan ist Mitglied in der Nationalen Sammlung, der NS«, sagte Papa zu mir. Als ob das alles erklärte.
»Du weißt doch, dass die NS mit den Deutschen zusammenarbeitet?«
Ich nickte.
»Deshalb wollen wir nichts mit ihnen zu tun haben«, fuhr er fort.
»Aber Johan ist doch Ottos bester Freund!«
»Nein«, sagte Papa. »Nicht mehr. Ihr dürft nicht mit Kindern von Nazis spielen. Verstehst du das?«
Ich nickte langsam, obwohl ich nicht sicher war, ob ich es wirklich ganz verstand. Johan hatte so traurig ausgesehen und Otto auch. Keiner von beiden wollte, dass es so war.
Papa strich mir mit seiner großen Hand über das frisch geschnittene Haar.
»Ich finde, es ist schön geworden«, sagte er, und ich mochte ihn wieder etwas mehr. Dann seufzte er tief aus dem Bauch heraus und ging hinauf in den ersten Stock. Ich hörte, wie er an unsere Zimmertür klopfte.
Bislang hatten Otto und Johan immer allein in einer Ecke des Schulhofs gestanden. Sie hatten nur einander, die zwei, aber das war besser, als niemanden zu haben. Nun durften sie nicht einmal mehr zusammen sein, sondern nur noch jeder für sich – in seiner Ecke.
»Darfst du nie wieder mit Johan spielen?«, fragte ich Otto, nachdem Papa lange mit ihm geredet hatte.
Er lag auf seinem Bett und starrte die Wand an.
»Nicht, solange Krieg ist«, sagte er mit belegter Stimme.
»Nur, weil Dypvik Mitglied der NS ist?«, fragte ich.
»Ja, das ist der wichtigste Grund. Aber vielleicht auch noch wegen etwas anderem.«
Otto drehte sich mir zu.
»Und was?«
»Wegen einer Sache, die Mama und Papa am Laufen haben.«
»Hä? Haben die was am Laufen?«
»Du musst doch gemerkt haben, dass sie zurzeit irgendwie komisch sind.«
»Nein. Oder – doch. Heute waren sie jedenfalls komisch … Ich durfte nicht in den Keller und …«
»Nicht nur heute«, unterbrach er mich. »Sie sind fast nie zu Hause. Sie stehen plötzlich beim Mittagessen auf. Es rufen massenhaft Leute an, die wir nicht kennen.«