Uschi Zietsch

Elfenzeit 5: Trugwandel


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die Decke, der seit dem Aufsetzen niemals wieder bewegt worden war. Wie ist er überhaupt dort hinaufgekommen?, fragte sich Nadja. Hatte Fanmór ihn auf seine Schultern geladen und ein weiterer Riese ihn aufgesetzt?

      Der Stein fühlte sich durch die Trockenheit unwirklich an. Der Getreue konnte nicht hier gewesen sein, seine Kälte hätte sich sofort niedergeschlagen und die erste Feuchtigkeit seit fünftausend Jahren verursacht. Vielleicht hatte er den Gang aus genau diesem Grund noch nicht betreten, um seine Anwesenheit nicht vorzeitig zu verraten, und tüftelte an einem Plan. Oder sammelte seine Kräfte.

      Wie es aussah, hatten sie noch Zeit. Die Zwillinge flüsterten miteinander, schüttelten die Köpfe und hoben die Schultern. Sie spürten also nichts Besonderes und hatten keine Ahnung, in welcher Kammer sich das Zeitgrab befand. Ihr Vater stupste sie sacht an, neigte sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Das Portal zur Geisterwelt ist geschlossen – und zwar so gut, dass ich es nicht finden kann. Das muss schon vor langer Zeit geschehen sein.«

      »Wahrscheinlich, als auch das Zeitgrab versiegelt wurde«, raunte Nadja zurück. »Warum haben sie es überhaupt angelegt, wenn es so gefährlich ist?«

      »Viele Dinge der Anderswelt gibt es genau aus diesem Grund, Nadja. Weil sie möglich sind, und weil irgendwann irgendjemand darauf Anspruch erhebt und die Magie nutzen will.«

      »Sehr … äh … logisch.«

      »Niemand behauptet, dass die Magie logisch im menschlichen Sinne wäre. Sie folgt eigenen Gesetzen. Vielleicht war das Zeitgrab gar nicht beabsichtigt gewesen, sondern wurde versehentlich geöffnet und konnte rechtzeitig versiegelt werden.«

      »Nicht vernichtet?«

      »Solche Dinge kann man nicht vernichten, genauso wenig wie die Knotenpunkte. Sie sind Bestandteil der materiellen wie spirituellen Erdsphäre.«

      Nadja konnte jedenfalls nichts Ungewöhnliches feststellen – außer, wie faszinierend dieser erhabene Ort war, und wie einzigartig. Erneut ließ sie die besondere Stimmung auf sich einwirken. Newgrange gehörte zu ihren absoluten Favoriten der mystischen Wunderbauten. Wie gern hätte sie gewusst, wer hier einst gelebt und das Monument erbaut hatte – und für wen.

      Nun bat die Führerin, sich ruhig zu verhalten und nicht in Panik zu geraten, da sie gleich das Licht ausschalten würde. Alle wandten den Blick den Gang zurück, nach Osten. Dann wurde es stockdunkel, aber nur für einen kurzen Moment. Ein Licht, das den Sonnenstand bei Wintersonnenwende simulierte, wurde eingeschaltet und schickte durch die obere Luke beim Eingang einen dünnen Lichtstrahl, der die rund zwanzig Meter den Gang hindurch zielsicher auf den Altar der Hauptkammer traf. Hauchfeiner Staub tanzte im Licht, doch nur für dreißig Sekunden, dann versiegte der Strahl, und die normale Beleuchtung kehrte zurück.

      Als Nadja sich in diesem sekundenkurzen Moment, bevor der Schein erlosch und die Beleuchtung wieder anging, umdrehte, sah sie die Augen der Elfen wie Amethyste leuchten, und einen schwach glühenden Punkt auf Davids Brust. Ihre Körper waren von einer dünnen, schimmernden Aura umgeben. Schmale, hohe, perfekt gezeichnete Silhouetten von ätherischer Schönheit. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, zum Teil aus Ergriffenheit, zum Teil aus Schrecken, wie deutlich ihre Freunde als Fremdwesen erkennbar waren. Noch immer musste es hier eine magische Strömung geben, auch wenn sie nicht ersichtlich war, sonst wäre es niemals möglich gewesen, die Elfen gegen ihren Willen zu offenbaren. Wahrscheinlich war es ihnen nicht einmal bewusst. Doch der Spuk war sofort wieder vorbei, sobald der Strahl ausgeschaltet war. Und das war nur eine simulierte Sonne gewesen! Wie hätten die beiden wohl im echten Sonnenlicht ausgesehen?

      »Gehen wir«, sagte Fabio leise und ergriff ihre Hand. »Schnell.«

      »Hast du es auch gesehen?«, fragte sie, während er sie durch den Gang voranschob.

      »Natürlich habe ich es gesehen, ein Feuerwerk hätte nicht offensichtlicher sein können. Vermutlich war ich auch nicht ganz unsichtbar. Immerhin wissen wir jetzt eines: Außer uns war kein weiterer Elf hier anwesend, ich habe mich genau umgesehen. Und ich denke, ich kenne jetzt das Problem des Getreuen, und ich habe eine Idee, wie wir ihn aufhalten.«

      Draußen brach Nadja als Erstes der Schweiß aus, als sie in die warme, feuchte Luft kam. Vorhin musste es einen Regenschauer gegeben haben, denn Wege und Gras glitzerten nass, doch die Verursacher dafür waren bereits geflohen, kein Wölkchen trübte mehr den blauen Himmel. Im Ganggrab war es kühl und so trocken gewesen, dass man sich anschließend hier draußen vorkam wie in den Tropen.

      Pirx und Grog warteten an der Seite und verhielten sich erstaunlich still. Nacheinander strömten die Leute an Nadja und Fabio vorbei und gingen munter schwatzend zum bereits wartenden Bus. Ein paar blieben noch einmal stehen und knipsten letzte Fotos. Nadja beobachtete einen Mann, der auf das Observatorium zusteuerte, dann abrupt verharrte, ein wenig verwirrt um sich blickte und wieder umkehrte. Er schoss nicht einmal ein Bild. Der Bann wirkte gut.

      Den Wortfetzen der anderen Besucher entnahm Nadja nichts Besonderes, sie unterhielten sich über das Grabmal, die Sache mit dem Licht, und dergleichen. Nur ein oder zwei schienen das Aufleuchten der Elfen ungewöhnlich empfunden zu haben, aber ihre Begleiter schoben es auf Lichteffekte in der Kleidung und winkten ab. Damit war es schon erledigt. Nadja war erleichtert; wenngleich sie vermutete, dass sie ohne ihr Vorwissen genauso reagiert hätte. Wenn man nicht mit der Nase draufgestoßen wurde, übersah man die Magie um sich herum, weil sie als nicht existent angesehen wurde. Erst, wenn man von der anderen Welt wusste, nahm man sie auch wahr.

      Schließlich trafen Rian und David ein, ungewöhnlich blass um die Nase und vor allem ungewöhnlich schweigsam.

      Nadja sagte nichts, denn sie mussten mit dem Bus zurück. Sie machte noch ein paar touristische Abschiedsfotos mit ihren Freunden und dem Vater, weil sich das so gehörte, und stieg dann ein.

      Als sie auf dem Parkplatz ankamen, ging es schon auf Mittag zu, und es wurde Zeit fürs Essen. Nadja war halb verhungert und bat, während sie sich in den Rover quetschten, um einen Zwischenhalt in einem Inn. »In Ordnung«, sagte Fabio, der wieder das Steuer übernahm. »Ich kann auch was vertragen.«

      Als die Türen geschlossen waren und der Motor lief, drehte Nadja, die vorn neben ihrem Vater saß, sich um. »Was ist da drin passiert, und zwar mit euch allen?«

      Betreten blickten die Elfen irgendwohin, nur nicht zu ihr.

      »Raus mit der Sprache!«, verlangte sie nachdrücklich. Sie sah David fest an, dem nichts anderes übrigblieb, als zu antworten.

      »Es ist dieses verdammte Licht«, murmelte er. »Wir haben … was wir gesehen haben …« Das war schon alles. Er wollte nicht darüber reden, und die anderen ebenfalls nicht.

      Nadja sah Fabio bittend an. »Papa?«

      »Schon gut, Fiorellina«, brummte er. »Es ist … eine sehr intime Sache, die Wahrheit zu sehen. Darüber kann man nicht so einfach sprechen. Nicht nur, weil es peinlich ist, sondern … eben intim. Noch schlimmer, als wenn du im Traum nackt oder nur mit Unterhose bekleidet auf die Bühne gehst, um vor tausend schick gekleideten und bedeutenden Leuten eine Rede zu halten oder einen Preis entgegenzunehmen.«

      »Oh«, machte sie. »Ich verstehe … glaube ich. Tut mir leid.« Sie drehte sich wieder nach vorn und entschloss sich, darüber hinwegzugehen und so zu tun, als wäre alles wie immer. Es war sowieso wichtiger, nach einem Inn oder wenigstens Pub Ausschau zu halten. Kurz darauf entdeckte Fabio das Red Parrot Inn an einer Straßenkreuzung und fuhr auf den gut besetzten Parkplatz – das war schon mal kein schlechtes Zeichen.

      Während des Essens wurden die Elfen zusehends munterer und hatten ihren Schock bald überwunden. Rian flirtete mit dem hübschen Kellner, und Fabio erzählte einen Schwank aus seiner Jugend. Satt und zufrieden kehrten sie ins Cottage zurück und machten sich an die Auswertung der Fotos und Filmaufnahmen. Nadja werkelte eine Weile an ihrem Notebook, bis sie alles übertragen und so zusammengestellt hatte, dass sie an den Fernseher anschließen und die »Show« starten konnte. Fehlte nur noch die Titelei, meinte sie.

      Pirx und Grog waren ein wenig nervös, aber die Aufnahmen waren weitgehend gelungen; reines Anfängerglück, wie David bemerkte.

      Aufmerksam