Alexandra Bleyer

Waidmannsruh


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Vinzenz nicht.

      Um sich abzulenken, griff er nach seiner Videokamera. Er richtete sie auf die nicht allzu steile Fratn vor sich, die er perfekt überblicken konnte. Dann rieb er sich die Hände, die trotz der dicken Handschuhe klamm zu werden drohten.

      Da! War das nicht ein Knacken im dichten Gedaks?

      Er beugte sich auf dem Sitzbrett nach vorn und griff gleichzeitig nach dem Fernglas, das am Lederband um seinen Hals hing, um den nahen Waldesrand abzusuchen.

      Ein Schatten bewegte sich zwischen den Bäumen.

      Ein verdammt großer Schatten! Sein Herz schlug schneller.

      Nur ganz kurz senkte er das Fernglas, um die Videokamera einzustellen.

      Ein Hirsch wagte sich zögernd auf die Lichtung heraus; Vinzenz konnte einen frustrierten Seufzer nicht unterdrücken. Von kapital konnte bei dem schmächtigen Sechsender keine Rede sein.

      Schon wollte er das Fernglas sinken lassen, als ein zweiter Hirsch auftauchte. Ein Prachthirsch.

      Der Hirsch.

      Aufgeregt kontrollierte Vinzenz die Videokamera: läuft!

      Wertvolle Sekunden, wenn nicht gar Minuten, verbrachte er damit, ganz, ganz sicherzugehen, dass es ein in den Abschussplan passender Einserhirsch war. Seit Flattacher ihn einmal wegen einem zu starken Schmalspießer zåmgschtaucht hatte, schaute er dreimal hin, bevor er abdrückte.

      Sein Herz schien ihm bis in die Kehle zu pochen. Was für ein Hirsch! Lebend brachte der locker einhundertfünfzig Kilogramm auf die Waage und erst das Geweih! Eines war klar: Der Hirsch wäre das Aushängestück der kommenden Hegeschau. Alle würden die Trophäe bewundern und den glücklichen Schützen beneiden. Ihn!

      Von wegen Prinzessin! Ha, dann würde selbst dem Flattacher nichts anderes übrig bleiben, als ihm Waidmannsheil zu wünschen. Mehr an Lob war von dem alten Grantnzipf allerdings nicht zu erhoffen, denn Sepp war kein Mann vieler Worte – außer er fand etwas zum Motschgan.

      Aus der Ferne vernahm Vinzenz Motorengeräusche; ein Auto näherte sich vom Tal herauf. Der Forstweg zog sich unmittelbar unter der Fratn über den Bergrücken und war, da vom Bauern auch zu Waldarbeiten genutzt, mit geländetauglichen Fahrzeugen selbst um diese Jahreszeit zu befahren. So ein Pech! Natürlich hatte auch der Hirsch das herannahende Auto wahrgenommen und verhoffte nun wenige Meter über dem Weg. Wenn er nur nicht absprang …

      Jetzt hieß es schnell sein. Vinzenz tastete nach dem Gewehr und legte es an. Auch die Videokamera hatte den Hirsch im Blick und würde den Moment größten Stolzes für alle Ewigkeit festhalten.

      Er leckte sich die Lippen. Pfui Teufel, keine gute Idee, wenn die Nase tropfte.

      Egal. Der Hirsch stand brettlbreit da; ideal für einen Blattschuss. Sein Finger krümmte sich um den Abzug.

      Ein Schuss knallte.

      Wie vom Blitz getroffen, brach der Hirsch zusammen. Durch das Zielfernrohr konnte Vinzenz beobachten, wie er noch kurz schlegelte. Das war ein perfekter Schuss wie aus dem Lehrbuch gewesen. Nicht einmal ein Flattacher würde daran etwas auszusetzen haben.

      Der einzige Haken daran? Vinzenz hatte noch gar nicht abgedrückt.

      Das Auge weiterhin ans Fernrohr gepresst, schwenkte er langsam die Waffe, bis ein dunkler Land Rover in sein Sichtfeld kam. Aus dem heruntergelassenen Fenster der Fahrertür ragte ein Gewehrlauf heraus.

      2

      Gerade noch rechtzeitig konnten Kerstin und Martin der Horde ausweichen, die sie mit seltsam steifem Gang niederzuwalzen drohte. Die Gesichter vermummt, mit Helmen oder flauschigen Hauben auf dem Kopf – und ja, die eine oder andere davon hatte Wickie-Plüschhörner – waren die Personen nahezu unkenntlich. Dazu passte auch das Tschepern der offenen Skischuhschnallen, das durchaus Ähnlichkeit mit den Kuhglocken hatte, die bei Krampusläufen schaurige Stimmung verbreiten sollten. Allerdings waren die Mitglieder der Perchtengruppen weitaus agiler und koordinierter in ihren Bewegungsabläufen als die müden vom Skigebiet am Ankogel ins Hotel zurückkehrenden Wintersportler, die mit den klobigen Skischuhen über den Parkplatz torkelten.

      »Wie die Zombies!«, schimpfte Kerstin. »Passts doch auf!«

      Sie duckten sich, als sich ein Tourist zu seinem Freund umwandte und sie mit den über der Schulter liegenden Ski beinahe geköpft hätte. Das Risiko, beim Perchtenumzug von einer Rute erwischt zu werden, schätzte Martin geringer ein.

      »Oh! I’m sorry!«

      »Be careful!«, ermahnte Kerstin ihn. »Sonst Aua!«

      Den Dienstwagen hatten sie etwas ungünstig geparkt, und Martin achtete darauf, dass er nicht zu Schaden kam. Während die meisten Mölltaler in der Bergwelt quasi mit den Brettln aufwuchsen und bereits im Alter von drei Jahren nach dem Motto »Wer bremst, verliert« den Steilhang runterrasten, war vielen Touristen der Umgang mit der Skiausrüstung wenig vertraut.

      »Mich wundert, dass auf den Pisten nicht mehr passiert«, regte sich Kerstin auf. »Wenn sie überhaupt auf den Pisten bleiben! Ich hasse die Idioten, die keine Ahnung vom Berg haben und noch bei Lawinenwarnstufe 4 ins freie Gelände fahren. Als ob die Bergretter nichts Besseres zu tun haben, als sie auszugraben.«

      Sie stiegen ins Auto, und Kerstin ließ den Motor an.

      »Wer sagt’s dem Chef?«, fragte sie.

      Martin zog seinen Notizblock hervor und blätterte darin. Unabhängig von Skifahrern, die auf den Hängen kollidierten, weil die Ski mit ihnen und nicht umgekehrt fuhren: Langeweile würden sie in den nächsten Wochen wohl nicht fürchten müssen.

      »Du«, antwortete er, mehr um sie zu ärgern.

      »Sicher nicht!«

      Sie warf ihm einen Seitenblick zu und schaltete einen Gang zurück, weil vor ihnen ein Winterdienstfahrzeug dahinzuckelte, der Gegenverkehr jedoch kein Überholen zuließ. Und allzu eilig hatten sie es nicht, in der Polizeiinspektion einzurücken und Postenkommandant Georg Treichel Rede und Antwort zu stehen.

      Martin hob den Notizblock und schwenkte ihn neben ihrem Gesicht. »Ich schreib, du redest.«

      »Vergiss es! Der Treichel zuckt aus. Das ist nicht gut für seinen Blutdruck, der ist eh schon zu hoch!«

      »Dann wirst du es ihm schonend beibringen müssen. Weißt eh, mit viel Einfühlungsvermögen und – Aua!«

      Kerstin beherrschte – typisch Frau? – Multitasking: Sie konnte Autofahren und zuschlagen zugleich.

      Vielleicht sollte er das mit dem Ärgern noch einmal überdenken. Kerstin war eindeutig nicht in der Stimmung für lockeres Geplänkel, und das hatte weniger mit ihrer Arbeit als Polizistin zu tun als mit ihrem Privatleben. In der Beziehung mit dem Spittaler Kollegen Michl Berger, in die sie sich im Herbst gestürzt hatte, schien jetzt Funkstille zu herrschen. Zuvor Liebesurlaub am Meer, bei dem die beiden kaum aus dem Hotelzimmer gekommen waren, wie Kerstin mit Herzerln in den Augen und ohne Rücksicht auf Martins Schamgrenze berichtet hatte; dann aber war keine Rede mehr von einem gemeinsamen Weihnachtsfest. Was genau los war, wusste Martin nicht. Obwohl Kerstin sonst überaus mitteilsam war, zeigte sie sich gegenwärtig ungewohnt schweigsam. Und mit ihrer Laune konnte sie schon fast dem cholerischen Gerhard Koller Konkurrenz machen.

      »Okay, machen wir es gemeinsam«, gab Martin sich daher kompromissbereit und rieb sich verstohlen den Oberschenkel.

      »Gute Idee. Du erzählst es ihm, und ich koch ihm einen Kaffee.« Kerstin hatte eine recht eigenwillige Vorstellung von Arbeitsteilung. »Hoffentlich hat Gerhard ein paar Kekse übrig gelassen! Die wird der Chef brauchen.«

      Sie waren ein eingespieltes Team. Auf der Polizeiinspektion eingetroffen, eilte sie voraus in den Aufenthaltsraum und aktivierte die Kaffeemaschine. Das stoßweise Knattern des Aufheizvorganges hatte auf der PI Signalwirkung, durchaus vergleichbar mit jener einer Sirene auf Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr.

      Gerhard trottete wie ferngesteuert herein und holte sich seine