Alexandra Bleyer

Waidmannsruh


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planmäßig abgerissen werden konnte, war es einem Brand zum Opfer gefallen.

      Noch in den 1960er Jahren hatte Mallnitz mit modernen Liftanlagen wie der Ankogelbahn, einem Hallenbad sowie einer lebhaften Lokalszene gepunktet, bevor es deutlich ruhiger wurde und man sich auch im Tourismus umorientieren musste. Der Nationalpark Hohe Tauern hatte dazu wertvolle Impulse gegeben; im neuen Besucherzentrum konnte man die Bergwelt mit seinen Bewohnern auch bei Schlechtwetter quasi hautnah kennenlernen. Dank Betti wusste Martin allerdings, was sich Eltern jüngerer Kinder nach dem ersten Besuch merkten: Man sollte Reservekleidung parat haben, denn der durch den Raum plätschernde Bach mit seinen diversen Stationen lud nicht nur zum wissenschaftlichen Experimentieren ein, sondern auch zum Pritscheln. Da Martin beim letzten Besuch für Bettis Geschmack zu viel Forschergeist entwickelt hatte, hatte sie ihm eine nasse Abkühlung verpasst. Tja, der nächste Sommer kam bestimmt und damit mehr als eine Möglichkeit zur Rache.

      Aus dem Festzelt schlug ihm dröhnende Musik entgegen. Er schob sich an zwei Perchten vorbei hinein und beobachtete aufmerksam das Treiben.

      Feierte der Ringdieb an der Bar unerkannt seinen Erfolg der letzten Nacht, hielt er gar nach einem neuen Opfer Ausschau? Oder war er längst über alle Berge?

      6

      »Du kommst zu spät«, sagte Manuela kühl, als sich Walter neben sie drängte, um noch einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern. »Wobei mich wundert, dass du überhaupt kommst!«

      Anfeuernde Rufe wurden laut, als die Skiläuferin mit der Nummer sechs startete. »Hopp, hopp, hopp!«

      Er beugte sich vor und sah hinauf, wo sich die jungen Skifahrer zum Abschlussrennen versammelten. Mit Helm, Sturmhauben und Skibrillen waren die Kinder kaum zu erkennen, und Manuela bezweifelte, dass Walter wusste, was für eine Farbe Valentins neuer Skianzug hatte.

      »War Valentin eppa schon dran?«

      Er klang besorgt. Verärgert. Enttäuscht.

      Gut so. Manuela lächelte.

      »Das Rennen hat um zwei Uhr begonnen.«

      »Im Gegensatz zu dir habe ich eine Firma zu leiten. Ich kann nicht immer so weg, wie es mir gefällt!«, fuhr Walter sie an, ohne Rücksicht auf die Leute ringsum.

      Was er konnte, konnte sie auch. »Wieso nicht? Letzte Woche hast dir ja trotz Jahresabschluss auch dauernd frei genommen, damit du auf die blöde Jagd gehen kannst!«

      »Und das war gut so! Sonst hätte der Vinzenz den Jahrhunderthirsch geschossen!«

      »Na und?«

      »Na und? Du hast echt keine Ahnung vom Leben! Werd endlich erwachsen.«

      Manuela ballte die Hände zu Fäusten. Er behandelte sie immer noch wie die naive Siebzehnjährige, die sie vor zehn Jahren gewesen war. Was sie damals als beschützend und umsorgend empfunden hatte, hatte sie zu hassen gelernt. Sie wollte sich nicht mehr so herumkommandieren lassen; immer gab er ihr das Gefühl, allein nichts auf die Reihe zu bekommen und von ihm abhängig zu sein.

      Sie presste die Lippen zusammen. Was gäbe sie dafür, von vorn anfangen zu können! Vieles würde sie anders machen.

      Mit einem Fluch wandte sich Walter zum Gehen.

      »Er hat die Startnummer neun«, sagte sie erzwungen ruhig.

      Soeben wurde die Nummer acht angekündigt.

      Walter schüttelte den Kopf und stellte sich wieder neben sie. Er holte sein iPhone aus der Tasche, um Valentins Fahrt zu filmen. »Was tschentscht dann uma?«

      Manuela versuchte ihn zu ignorieren und sich ganz auf Valentin zu konzentrieren, der von seinem Skilehrer an die Startlinie geschoben wurde. Auf das Kommando hin schoss er aufs erste Tor zu. Ihre aufmunternden Rufe wurden von Walters Schreien übertönt.

      »Ja! Ja! Das ist mei Bua!«, jubelte er, als Valentin die vorläufige Bestzeit erreichte.

      Manuela ließ ihn stehen und stapfte über die Piste. Valentin stellte sich am Köfelelift an, um noch einmal hinaufzufahren. Der Skikurs in den Weihnachtsferien hatte ihm gutgetan. Wie ein Profi hielt er sich in der Liftspur und traute sich sogar, eine Hand vom Bügel zu lösen, um ihr zu winken. Sie winkte wild zurück.

      Doch als er dann im Pflug auf sie zufuhr und sie schon die Arme ausbreitete, kam ihr Walter zuvor. Er fing Valentin ab, hob ihn auf und wirbelte ihn durch die Luft.

      »He, du Sieger! Ich bin so stolz auf dich! Toll hast das gemacht! Weißt was, zur Belohnung fahren wir zum McDonald’s! Was sagst?«

      »Ja!«

      »Aber ich habe zu Hause alles für Pizza vorbereitet!«

      »Die kannst ja morgen machen«, wischte Walter ihren Einwand beiseite. »Wir zwei fahren jetzt nach Spittal, und du kannst dir aussuchen, was immer du willst!«

      Valentin klammerte sich mit beiden Händen an Walters Unterarm und wurde von ihm Richtung Parkplatz gezogen.

      Unschlüssig stand sie auf der Piste und sah ihnen nach. Sie schrak zusammen, als jemand zu ihr trat und sich räusperte.

      »Was denn, haben dich deine Männer einfach stehen gelassen?«, fragte Chrissi Büttner, Valentins Skilehrer.

      Manuela zwang sich zu einem Lächeln. »Schaut ganz danach aus.«

      »Eine schöne Frau lässt man nicht einfach im Schnee zurück«, rief Chrissi in gespielter Empörung. Er wackelte übertrieben mit den Augenbrauen. »Was meinst, gemma was trinken?«

      Manuela knabberte an ihrer Unterlippe. Sollte sie heimfahren, traurig im Haus sitzen und darauf warten, bis sie zurückkamen? Oder …?

      Sie lächelte. »Warum nicht?«

      7

      »Der Chef kommt!«, rief Paul Riesser, der ihnen von seiner Villacher Stammdienststelle zugeteilt worden war, aus dem Journaldienstraum, wo sich auch die Kamera zum Stiegenaufgang befand. In Ermangelung einer eigenen Kanzlei war der Stuhl vor dem Telefon sein Lieblingsplatz, von dem er sich nur wegbewegte, wenn es wirklich sein musste. Kurz vor seinem Pensionsantritt stehend, hatte er eigentlich eine ruhige Kugel schieben wollen. Eigentlich. Der Seriendieb machte Paul einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Der Platz an der Telefonanlage war zum heißen Stuhl geworden; beinahe pausenlos klingelte es. Besorgte Bürger teilten ihre Beobachtungen mit, die sich zumeist als irrelevant erwiesen. Ein Alarm hatte quasi einen Großeinsatz der gesamten Dienststelle ausgelöst – wobei sich dann aber herausgestellt hatte, dass das mutmaßliche Opfer den vermeintlich gestohlenen Schmuck verlegt, sprich, in eines der viel zu vielen Seitenfächer des Kosmetikkoffers gesteckt und in der Aufregung nicht mehr gefunden hatte.

      Auch wenn sich Paul über die Arbeitsbelastung beklagte und mehr als einmal seine Zuteilung bedauerte – »da war es ja in Villach noch ruhiger zugegangen« –, war er nicht zwider. Auch wenn er sich keinen Haxn ausriss, erledigte er, was anfiel, und ging vor allem seinen Kollegen nicht auf den Keks. Das war mehr, als man von anderen sagen konnte.

      Martin kam sich vor wie bei einer x-mal durchgespielten Katastrophenübung. Mit hochgezogenen Brauen schaute er Kerstin zu, die – ohne den Blick von ihrem Bildschirm zu lösen – blind nach dem halb vollen Sackerl Gummibärchen griff und es in der Schreibtischlade verschwinden ließ. Sicherheitshalber legte sie noch einen Akt darauf. Ob das ausreichte? Treichel hatte eine beeindruckende Spürnase für Naschereien entwickelt. Der war wie ein Bluthund.

      Er checkte seinen Tisch. Nein, da lag nichts Essbares herum, und seine Notfallschokolade verwahrte er mittlerweile in seinem Spind und schloss diesen sogar ab, womit sie sowohl vor Treichel wie auch vor Kerstin sicher war. Sie hatte zwar immer schon gern genascht, in den letzten Wochen jedoch einen wahren Heißhunger auf Süßes entwickelt. Eigentlich auch auf Salziges, wie die leere Chipspackung in ihrem gemeinsamen Mistkübel bewies.

      Die On-off-Beziehung mit Michl Berger – mehr off als on – machte ihr zu schaffen und schlug sich in Frustfressattacken nieder. Liebeskummer beschränkte sich leider nicht