»Beschreiben Sie Ihre Mutter.«
»Sie ist Österreicherin. Spricht fließend Englisch, praktisch akzentfrei. Sie ist sehr elegant. Immer auf der Höhe der Zeit.«
»Ist sie schön?«
»Ich denke schon. Als junge Frau war sie sehr schön. Ich habe Fotos gesehen.«
»Wie heißt sie?«
»Anneliese. Meistens wird sie Anna gerufen.«
»Mrs Anneliese Rief.«
»Nein. Lady Faulkner. Nach dem Tod meines Vaters hat sie einen Lord Faulkner geheiratet.«
»Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihrem Stiefvater?«
»Sehr gut. Crickmay Faulkner ist älter als meine Mutter – deutlich älter. Er ist über siebzig.«
»Aha.« Lysander hörte den Füller kratzen.
»Denken Sie auch in sexueller Hinsicht an Ihre Mutter?«
Lysander unterdrückte ein müdes Stöhnen. Er hatte wirklich Besseres von Bensimon erwartet.
»Nein«, sagte er. »Bestimmt nicht. Nie. Niemals.«
8 Ein schneidiger Kavallerieoffizier
Lysander staunte, als er Wolfram sah. In voller militärischer Uniform stand er in der Diele, sein Säbel schleifte am Boden, den Tschako trug er unterm Arm, die schwarzen Stiefel waren gespornt und mit Knieschonern versehen. Er wirkte ungeheuer imposant.
»Großer Gott«, rief Lysander bewundernd aus. »Steht eine Parade an?«
»Nein«, sagte Wolfram ein wenig bedrückt. »Heute findet meine Gerichtsverhandlung statt.«
Lysander betrachtete ihn von allen Seiten. Die Uniform war schwarz mit schwerem goldenem Schnurbesatz, der sich schlangenartig über die Brust zog. Eine Überjacke aus Pelz war über die Dolmanschulter gehängt. Der Tschako war passend zu den roten Kragenspiegeln und Hosentressen mit einer roten Feder geschmückt.
»Dragoner?«, mutmaßte Lysander.
»Husar. Hast du vielleicht etwas zu trinken da? Etwas Hochprozentiges? Ich gestehe, dass ich leicht nervös bin.«
»Ich kann dir Scotch anbieten, wenn du magst.«
»Perfekt.«
Wolfram folgte ihm in sein Zimmer und setzte sich mit rasselndem Säbel. Lysander schenkte den Whisky in einen Zahnputzbecher ein, den Wolfram in einem Zug leerte und ihm sogleich zum Nachfüllen hinhielt.
»Sehr guter Tropfen – finde ich.«
»Du kannst doch nicht mit einer Whiskyfahne vor Gericht erscheinen.«
»Zuvor rauche ich noch eine Zigarre.«
Lysander setzte sich ebenfalls und musterte dieses ruritanische Idealbild eines schneidigen Kavallerieoffiziers. Wenn er den Tschako aufsetzte, dürfte er an die 2,15 Meter heranreichen, schätzte Lysander.
»Worum geht es bei deiner Verhandlung?«, fragte er. Nun, da der Tag der Abrechnung gekommen war, konnte er ruhig versuchen, den Grund für Wolframs Zwangsaufenthalt in der Pension Kriwanek in Erfahrung zu bringen.
»Um Geld, das aus der Offiziersmesse entwendet wurde«, antwortete Wolfram gelassen. Dann gab er die Details preis: Der Regimentsoberst sollte in Pension gehen, und die Offiziere hatten gesammelt, um ihm ein opulentes Abschiedsgeschenk zu machen. Die Spenden erfolgten anonym, das Geld wurde einfach in den Schlitz einer verschlossenen Kassette gesteckt, die auf einer Anrichte in der Messe stand. Als die Kassette schließlich geöffnet wurde, reichte das Geld höchstens, um dem Oberst »eine mittelgroße Kiste Trabuco-Zigarren oder ein paar Flaschen ungarischen Schaumwein« zu spendieren, wie Wolfram erklärte. »Offenbar hatten wir für unseren geliebten Oberst kaum etwas erübrigen können – oder jemand hatte lange Finger gemacht.«
»Wer verwahrte den Kassettenschlüssel?«
»Der jeweils aufsichtführende Offizier, im wöchentlichen Wechsel. Die Kassette stand drei Monate dort. Drei Monate entsprechen zwölf Wochen, macht also zwölf Verdächtige, von denen jeder weidlich Zeit gehabt hätte, den Schlüssel nachmachen zu lassen und Geld zu entnehmen. Ich war einer dieser zwölf aufsichtführenden Offiziere.«
»Aber warum verdächtigt man ausgerechnet dich?« Lysander war Wolframs wegen entrüstet.
»Weil ich Slowene in einem deutschen Regiment bin. Das heißt, unter deutschsprachigen Österreichern. Es gibt auch ein paar Tschechen, aber die deutschen Offiziere werden immer den Slowenen in Verdacht haben – deshalb musste ich ein halbes Jahr hier zubringen, während sie überlegten, was sie mit mir anstellen sollten.«
»Aber das ist doch lächerlich. Nur, weil du Slowene bist?«
Wolfram lächelte matt.
»Wie viele Länder zählt unser stolzes Kaiserreich?«
»Österreich, Ungarn und …« Lysander dachte nach. »Und Kroatien –«
»Und das ist erst der Anfang. Die Krain, Mähren, Galizien, Bosnien, Dalmatien – ein Gemüseeintopf, ein riesiger Salat, der zum Himmel stinkt. Von den Italienern oder Ukrainern ganz zu schweigen. Ich nehme noch einen letzten Schluck Whisky.«
Lysander schenkte ihm ein.
»Hier hast du Österreich.« Wolfram rückte die Flasche beiseite und stellte den Becher daneben ab. »Hier hast du Ungarn. Die anderen Länder sind eine Art Harem für diese beiden mächtigen Sultane. Sie benutzen uns nach Belieben. Wer hat also das Geld des Obersts geklaut? Das muss der verschlagene Slowene gewesen sein.«
Es klopfte an der Tür, dann steckte Traudl den Kopf herein und wurde rot.
»Herr Leutnant, Ihr Fiaker wäre da.«
Wolfram stand auf, knöpfte seinen Kragen zu, zog die Handschuhe an, packte seinen Säbel.
»Viel Glück«, sagte Lysander und gab ihm die Hand. »Du bist unschuldig, du hast nichts zu befürchten.«
Wolfram zuckte lächelnd mit den Schultern. »Kein Mensch ist ganz frei von Schuld …«
»Das ist wohl wahr. Aber du weißt, was ich meine.«
»Ich komm schon zurecht«, sagte Wolfram. »Der verschlagene Slowene hat noch ein paar Trümpfe im Ärmel.« Er verneigte sich leicht, schlug die Hacken zusammen – kurzes Sporenklappern – und ging.
Lysander kehrte an seinen Schreibtisch zurück und nahm sich die Autobiographischen Untersuchungen vor. Er fühlte eine gewisse Verzagtheit. Egal, wie die Verhandlung ausging – Wolfram würde die Pension bald verlassen, würde entweder rehabilitiert in die Kaserne zurückkehren oder unehrenhaft in das Zivilleben entlassen werden. Dann würde er vermutlich wieder in Slowenien landen … Wolfram würde ihm fehlen. Er notierte sich ein paar Fakten zum Fall des Leutnant Rozman. »Kein Mensch ist ganz frei von Schuld«, hielt er fest, und dabei fiel ihm ein, wie raffiniert es tatsächlich wäre, für ein Dutzend potenzieller Verdachtspersonen zu sorgen, wenn man einen Diebstahl plante. Eine Ansammlung von Verdächtigen, die den Täter verdeckte. Er unterstrich den Satz »Kein Mensch ist ganz frei von Schuld«. Vielleicht war es an der Zeit, dass er Bensimon sein schwärzestes, schändlichstes Geheimnis anvertraute …
Wieder klopfte es an der Tür. Lysander warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Herr Barth käme erst in einer Stunde. Auf sein »Herein« tauchte Traudl zum zweiten Mal auf und machte die Tür hinter sich zu.
»Grüß dich, Traudl. Was gibt’s?«
»Frau Kriwanek ist gerade bei ihrer Schwester zu Besuch, und Herr Barth schläft in seinem Zimmer.«
»Nun gut, so weiß ich Bescheid.«
»Bevor er das Haus verließ, hat Leutnant Rozman mir zwanzig Kronen gegeben und gesagt, ich soll zu Ihnen gehen.«
»Weshalb?«
»Damit