Viktor Mayer-Schonberger

Machtmaschinen


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Wir sind hoffnungslos überfordert, unsere Daten­schutz­­­einstellungen bei der Vielzahl der digitalen Dienste sinn­voll zu managen. Wir nutzen sie dennoch, weil sie bequem und nützlich sind. Der Preis ist individuelle und ökonomische Abhängig­keit trotz, zum Teil gar wegen der DSGVO, weil sie die Verantwortung auf den Schultern der Nutzerinnen und Nut­zer ablädt.

      Die Informationsasymmetrien wachsen weiter zugunsten der digitalen Superstars und europäische Regulierungsversuche verstärken dies. Das Ergebnis ist ernüchternd: Informations­mächtige kommen mit den komplizierten Regelungen zu­recht, beherrschen sie technisch und rechtlich, während digitale Nach­züglerunternehmen an ihnen verzweifeln und ihre begrenzten Datensätze noch weniger nutzen. Die DSGVO, auf die europäi­sche Datenschützer so stolz sind, ist nüchtern betrachtet eine Machtdemonstration der Informationsmächtigen. Wer hinter verschlossenen Türen mit den Mächtigen in Kalifornien und China spricht, hört oft den Satz: »Seltsam, dass die Europäer nicht einmal merken, wie sie sich selbst lähmen.«

      Auf die Schwächen der amerikanischen Nichtregulierung und den selbstverständlich wichtigen wie notwendigen Schutz von Privatheit im digitalen Zeitalter werden wir im dritten Kapitel zu sprechen kommen. Aber die zentrale Botschaft dieses Buchs lautet: Wir müssen in Europa endlich eine offensive Antwort auf die Machtkonzentration durch Informationsasym­metrien finden. Wir müssen die Informationsmächtigen verpflichten, ihre Informationsschätze mit anderen zu teilen – und zwar alle Informationsmächtigen, egal ob sie aus den USA, China oder Europa kommen. Wir müssen den Zugang zu Informationen für alle öffnen: für Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Start-ups und innovative Mittelständler, Gesundheitsbehörden und Umweltschützende.

      Ein weltweit offener Zugang zu Daten ist aus heutiger Sicht, in Zeiten eines Tech Cold War zwischen den digitalen Supermächten USA und China und hybrider Cyber-Kriegsführung aus Russland eine hübsche Utopie ohne realistische Umsetzungschance. Ein offener europäischer Datenraum, dem sich die innovativen Volkswirtschaften Asiens und des globalen Sü­dens anschließen können, hingegen ist eine ökonomische und gesellschaftliche Großchance. Im ersten und zweiten Kapitel dieses Buchs werden wir beschreiben, warum Daten heute der wichtigste Rohstoff für Innovation sind und wie die herrschenden Datenmonopole entgegen ihrem Ruf als digitale Vor­reiter Innovation verlangsamen – zugunsten ihrer Aktionäre und auf Kosten von Kunden, Volkswirtschaften und gesell­schaft­lichem Fortschritt. Ein offener europäischer Datenraum bietet die Chance auf einen digitalen Befreiungsschlag. Aus Machtmaschinen in den Händen weniger würden Ermächti­gungs­maschinen für alle, die mit Informationstechnologie kom­­petent umgehen können.

      Europa könnte sich dann – in bester Gedankentradition des österreichischen Nationalökonomen Joseph Schumpeter – als innovativster Kontinent der Welt neu erfinden, weil eben dank geteiltem Datenreichtum die wichtigste Ressource der Welt im Überfluss für alle vorhanden wäre. Europa würde nicht mehr seine klügsten Datenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler an US-Unternehmen verlieren, es würde die klügsten Talente aus aller Welt anziehen, weil sein Angebot für innovative Menschen kaum schlagbar wäre: kulturelle Vielfalt, Demo­kratie, sozialer Zusammenhalt und obendrauf noch die bes­ten Bedingungen, mit Daten das Neue in die Welt zu bringen.

      Zugegeben, die von uns in diesem Buch beschriebene Selbst­disruption ist kein einfaches Unterfangen, weder mental noch technisch. Und dennoch ist sie nur eine Frage des po­litischen Willens. Juristisch ist sie leichter umsetzbar, als es auf den ersten Blick scheint. Jedes Unternehmen, das auf dem europäischen Markt tätig ist, muss allen Zugang zu seinen Daten gewähren. Wer das nicht möchte, darf in Europa weder Geschäfte machen, noch bekommt er oder sie legalen Zugriff auf den europäischen Datenraum. Die in Europa zu teilenden Daten müssen natürlich von persönlichen Merkmalen befreit werden. Selbstverständlich sind Informationen ausgenommen, die ausdrücklichen gesetzlichen Geheimhaltungspflichten un­terliegen. Dazu zählen etwa Daten, aus denen sich Geschäftsgeheimnisse oder direkte Rückschlüsse auf die wirtschaftliche Situation des datenteilenden Unternehmens ziehen lassen. Forschungs- und anonymisierte Gesundheitsdaten müssen grundsätzlich frei fließen. Der Staat muss seine Server ebenfalls öffnen. Im vierten Kapitel werden wir detailliert beschreiben, warum ein offener europäischer Datenraum zwar auch für einige europäische Unternehmen kurzfristig Verluste an Informations- und Marktmacht bedeuten wird, der Gewinn für Europa aber in Summe enorm ist, wenn wir die Informationsmonopole aufbrechen und Machtmaschinen in Ermächti­gungs­werkzeuge wandeln. Der Wille dazu bildet sich langsam, aber stetig.

      Als wir 2017 in unserem Buch Das Digital für die Idee des Daten-Sharings warben, hielten uns einige für Spinner. Heute wird in Brüssel mit zunehmender Intensität über eine Öffnung der Zugänge zu Daten diskutiert. Zugleich mehren sich die Signale aus Schwellenändern, dass eine europäische Pflicht zum Daten-Sharing nur die Vorhut einer weltweiten Auseinan­dersetzung über den Zugang zu Daten ist. Die digitalpolitisch Verantwortlichen in bevölkerungs- und damit datenreichen Län­dern wie Indien, Pakistan und Nigeria erkennen immer stär­ker, dass der postkoloniale Nord-Süd-Konflikt durch asymme­tri­sche Informationsmacht eine Neuauflage erlebt. Die Abhängigkeit von digitalen Diensten aus den USA und China wächst täglich. Am Ende dieses Buchs werden wir beschreiben, wie die Bürgerinnen und Bürger der Schwellenländer Daten in Masse liefern, auch mit schlecht bezahlter Klickarbeit. Und wie Big Tech in unfair asymmetrischer Machtbeziehung den ökonomischen Mehrwert abschöpft. Dabei fällt auf: Erstmals in der Geschichte sitzen die ehemaligen Kolonien des Südens mit den ehemaligen Kolonialmächten Europas in einem Boot und werden von amerikanischen und chinesischen »Datenkolonialisten« beherrscht. Und erstmals in der Geschichte des Postkolonialismus könnten die großen Schwellenländer im Ver­gleich zu Europa über eine stärkere Ausgangsposition und eine klare Haltung diese Machtbeziehung neu gestalten.

      Die Datenmacht bereitet sich derweil auf einen langen und zähen Abwehrkampf vor. Ein zuverlässiger Indikator hier­für ist, dass Apple, Google, Facebook und Amazon gerade ihre Lobbyarmeen in Berlin, Brüssel und Washington mit Hochdruck auf­rüsten. In Europa ist das zentrale Thema nicht mehr der Da­ten­schutz. Die Superstarfirmen wissen, dass sie damit gut zurechtkommen. Ihre Lobbyagenda wird jetzt bestimmt von dem Ziel, ihnen die exklusive Nutzung der Daten zu sichern, die europäische Nutzerinnen und Nutzer auf ihren Ser­­vern erzeugen. Sie sagen es nicht laut, aber sie wissen: Der Da­tenschutz in seiner jetzigen Interpretation hilft ihnen dabei.

      Ein Zugang zu Daten für alle ist keine Utopie. Er ist eine machbare Vision. Damit die Vision Wirklichkeit wird, braucht es nur den Mut zur Umsetzung und eine politische Strategie. Es ist höchste Zeit, dass Europa diese Strategie erarbeitet, denn weder der amerikanische Datenmonopolkapitalismus noch der halbstaatliche Datenmerkantilismus Asiens ist mit unseren In­te­ressen und Werten vereinbar. Dafür müssen wir uns in Eu­ropa endlich von der Illusion der individuellen Hoheit über unsere Daten und dem Prinzip der Datensparsamkeit verab­schie­den. Wir müssen endlich begreifen: Eine Daten­nutz-Grund­­­verordnung ist für unseren Wohlstand und unsere Demokratie so notwendig wie eine Datenschutz-Grundverord­nung für unsere bürgerlichen Rechte. Beide sind zwei Seiten derselben Medaille.

      Daten haben wie Wissen eine wunderbare Eigenschaft. Sie sind ökonomisch gesprochen ein »nicht rivalisierendes Gut«. Sie eignen sich daher als öffentliches Gut wie kaum eine wichtige wirtschaftliche Ressource zuvor. Die Idee »Daten für alle« wird nicht daran scheitern, dass alle ihre Kühe dort weiden lassen und alles Gras bald aufgefressen ist. Daten als digitales öffentlich zugängliches Gut verschwinden ja nicht, wenn meh­rere sie nutzen. Denn Daten werden erst durch ihre Nutzung wertvoll. In Summe steigt der Wert der Daten bei mehrmaligem Gebrauch. Es ist schlicht dumm, die Nutzung von Daten durch die Verfügungsmacht weniger Datenkonzerne einzu­schrän­ken. Um dies zu ändern, müssen wir die Konzerne nicht einmal enteignen, denn die Juristen kennen bei Daten keinen Eigentumsbegriff. Die EU muss nur die Zugangsrechte neu regeln. Das wird in den kommenden Jahren geschehen. Studien sagen: 85 Prozent aller in Europa erzeugten Daten werden nicht ein einziges Mal genutzt. Der Hauptgrund ist: Diejenigen, die sie wertschöpfend nutzen könnten, haben keinen Zugang. Da­ten­monopole sind Diebstahl am Fortschritt. Datennutz ist Dienst für das Gemeinwohl.

      Die Zeit ist reif für die Entmachtung der Informationsmächtigen, die erst durch unsere Informationen groß wurden. Der Druck gegen Big