Vorlieben mitzuteilen und unser Leben zu erzählen. Totalkommunikation und Totalüberwachung, pornografische Entblößung und panoptische Überwachung fallen in eins. Freiheit und Überwachung werden ununterscheidbar.
Das neoliberale Glücksdispositiv lenkt uns vom bestehenden Herrschaftszusammenhang ab, indem es uns zur seelischen Introspektion zwingt. Es sorgt dafür, dass jeder sich nur noch mit sich selbst, mit seiner eigenen Psyche beschäftigt, statt die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisch zu hinterfragen. Das Leiden, für das die Gesellschaft verantwortlich wäre, wird privatisiert und psychologisiert. Zu verbessern sind nicht gesellschaftliche, sondern seelische Zustände. Die Forderung nach Optimierung der Seele, die in Wirklichkeit eine Anpassung an Herrschaftsverhältnisse erzwingt, verschleiert gesellschaftliche Missstände. So besiegelt die positive Psychologie das Ende der Revolution. Nicht Revolutionäre, sondern Motivationstrainer betreten die Bühne und sorgen dafür, dass kein Unmut, ja keine Wut aufkommt: »Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren mit ihren extremen gesellschaftlichen Gegensätzen gab es viele Arbeitervertreter und radikale Aktivisten, die die Exzesse der Reichen und das Elend der Armen anprangerten. Im 21. Jahrhundert hingegen verbreitete eine ganz andere und zahlreichere Brut von Ideologen das Gegenteil − dass in unserer zutiefst ungleichen Gesellschaft alles gut wäre und es für jeden, der sich darum bemühte, noch viel, viel besser würde. Motivatoren und andere Vertreter des positiven Denkens hatten für die Menschen, die aufgrund des sich ständig umwälzenden Arbeitsmarkts vor dem wirtschaftlichen Ruin standen, eine gute Botschaft: Heißt jede auch noch so beängstigende ›Veränderung‹ willkommen und seht sie als Chance.«20
Auch der unbedingte Wille zur Schmerzbekämpfung lässt vergessen, dass der Schmerz gesellschaftlich vermittelt ist. Der Schmerz spiegelt sozioökonomische Verwerfungen wider, die sich sowohl ins Psychische als auch ins Körperliche einschreiben. Analgetika, massenweise verordnet, verdecken gesellschaftliche Verhältnisse, die zu Schmerzen führen. Die ausschließliche Medikalisierung und Pharmakologisierung des Schmerzes verhindert, dass der Schmerz Sprache, ja Kritik wird. Sie nimmt dem Schmerz den Objektcharakter, ja den Gesellschaftscharakter. Mit medikamentös oder medial induzierter Abstumpfung immunisiert sich die Palliativgesellschaft gegen Kritik. Auch Soziale Medien und Computerspiele wirken wie Anästhetika. Die gesellschaftliche Daueranästhesie verhindert Erkenntnis und Reflexion, unterdrückt die Wahrheit. In Negative Dialektik schreibt Adorno: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, ist objektiv vermittelt.«21
Das Glücksdispositiv vereinzelt die Menschen und führt zur Entpolitisierung und Entsolidarisierung der Gesellschaft. Jeder muss sich selbst ums Glück kümmern. Es wird eine Privatangelegenheit. Auch das Leiden wird als Resultat eigenen Versagens interpretiert. So gibt es statt Revolution Depression. Während wir an eigener Seele herumdoktern, verlieren wir die gesellschaftlichen Zusammenhänge aus dem Blick, die zu sozialen Verwerfungen führen. Wenn Ängste und Unsicherheiten uns quälen, machen wir nicht die Gesellschaft, sondern uns selbst dafür verantwortlich. Das Ferment der Revolution ist aber der gemeinsam empfundene Schmerz. Das neoliberale Glücksdispositiv erstickt ihn im Keime. Die Palliativgesellschaft entpolitisiert den Schmerz, indem sie ihn medikalisiert und privatisiert. Unterdrückt und verdrängt wird dadurch die gesellschaftliche Dimension des Schmerzes. Kein Protest geht von jenen chronischen Schmerzen aus, die sich als pathologische Erscheinungen der Müdigkeitsgesellschaft interpretieren lassen. Die Müdigkeit in der neoliberalen Leistungsgesellschaft ist insofern unpolitisch, als sie eine Ich-Müdigkeit darstellt. Sie ist ein Symptom des überstrapazierten narzisstischen Leistungssubjekts. Sie vereinzelt die Menschen, statt sie zu einem Wir zu verbünden. Sie ist von jener Wir-Müdigkeit zu unterscheiden, die eine Gemeinschaft stiftet. Die Ich-Müdigkeit ist die beste Prophylaxe gegen die Revolution.
Das neoliberale Glücksdispositiv verdinglicht das Glück. Das Glück ist mehr als die Summe positiver Gefühle, die eine höhere Leistung versprechen. Es entzieht sich der Optimierungslogik. Die Unverfügbarkeit zeichnet es aus. Ihm wohnt eine Negativität inne. Das wahre Glück ist nur gebrochen möglich. Es ist gerade der Schmerz, der das Glück vor Verdinglichung schützt. Und er verleiht ihm eine Dauer. Der Schmerz trägt das Glück. Das schmerzliche Glück ist kein Oxymoron. Jede Intensität ist schmerzhaft. Die Passion verbindet Schmerz und Glück. Das tiefe Glück enthält ein Moment des Leidens. Schmerz und Glück sind, so Nietzsche, »zwei Geschwister und Zwillinge, die mit einander gross wachsen oder […] mit einander − klein bleiben«.22 Wird der Schmerz unterbunden, so verflacht das Glück zu einer dumpfen Behaglichkeit. Wer nicht empfänglich ist für den Schmerz, verschließt sich dem tiefen Glück: »Die Fülle der Arten des Leides fällt wie ein unendlicher Schneewirbel auf einen solchen Menschen, wie ebenfalls an ihm die stärksten Blitze des Schmerzes sich entladen. Allein unter dieser Bedingung, von allen Seiten und bis ins Tiefste hinein dem Schmerze immer offen zu stehen, kann er den feinsten und höchsten Arten des Glücks offen stehen […].«23
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