Туве Янссон

Briefe von Klara


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hätte ich sagen sollen? Hätte er etwas erklären können, wollte er das überhaupt – also, ich meine, so benimmt man sich doch nicht! Aber trotzdem, ich hätte fragen können.

      Mit der Zeit kam heraus, dass Robert an jeden Einzelnen aus der Malklasse geschrieben hatte, und jeder Brief schloss mit einer sehr höflichen Kündigung der Bekanntschaft. Wir zeigten einander seine Briefe nicht und besprachen die Angelegenheit auch nicht. Vielleicht fanden wir es irgendwie komisch, auf etwas, das nie existiert hat, zu verzichten, aber wir sprachen es nicht aus. Alles ging so weiter wie immer, ganz so wie immer.

      Dann kam die Zeit, als wir unsere Leinwände signierten. Und sehr bald kam der Krieg.

      Nach dem Krieg stieß ich einmal zufällig auf einen Kollegen aus der Malschule, wir gingen in ein Café. Irgendwann kam ich auf Robert zu sprechen. »Weißt du, wo er sich heutzutage aufhält?«

      »Niemand weiß das. Er verirrte sich. Er ging über die Grenze.«

      »Wie meinst du das?«

      »Das war so typisch für ihn«, fuhr mein Studienfreund fort. »Also, er lief einfach in die falsche Richtung. Das war in jener Zwischenzeit, als nichts passierte, man wartete nur und machte Holzschnitzereien oder was immer man damals trieb. Robert war mit seinem Skizzenblock unterwegs, machte den Wald unsicher und kehrte dann mit seinen Skizzen zur Kantine zurück. Ich glaube, er wollte damals zur Kantine, dort gab es einen anständigen Mittagstisch. Aber er ging in die falsche Richtung. Er hatte keinen Orientierungssinn.«

      Ich habe ziemlich viel an Robert gedacht, vielleicht vor allem an seine Abschiedsbriefe. Inzwischen glaube ich zu verstehen, dass diese Briefe aus unwiderstehlichem Zwang geschrieben wurden und ein enormes Gefühl der Erleichterung und Befreiung hinterließen. Waren da noch andere, außerhalb der Schule, denen er auf dieselbe Art geschrieben hatte? Hatte er an seine Eltern geschrieben? Ja, mit Sicherheit an seine Eltern.

      Unglaublich, so etwas zu wagen – die eigene Umgebung von sich zu distanzieren, alle diese Personen, entweder sie sind unerreichbar oder man hat sie zu nahe an sich herankommen lassen!

      … aus verschiedenen Gründen, die ausschließlich meine eigenen sind, sehe ich mich gezwungen …

      Aber so etwas macht man ja nicht.

      IM AUGUST

      Eines Abends im August saßen Tante Ada und Tante Ina auf der Veranda und erholten sich, die letzten Verwandten waren in ihre Autos gestiegen und weggefahren, und jetzt war nur der Wind draußen im Garten zu hören. Der Abend war sehr warm, aber man konnte keine Fenster aufmachen, denn dann flogen die Nachtfalter gegen die Lampe und lagen schließlich mit zitternden Flügeln über großen haarigen Körpern da, und sie zu töten, war scheußlich.

      »Ist alles gutgegangen?«, fragte Ina. »Es waren zu viele. Und warum mussten sie die kleinen Kinder mitbringen, es war doch eine Gedenkfeier? Wir haben den Salat vergessen.«

      Ada antwortete nicht, und ihre Schwester fuhr fort: »Müssen wir das jedes Mal am Todestag wiederholen? Das können doch die anderen übernehmen, in der Stadt ist das einfacher. Was ist eigentlich alles schiefgegangen?«

      »Nichts«, sagte Ada, »überhaupt nichts, nur, dass du sie in Verlegenheit gebracht hast. Du hast zu viel über Mama geredet. Warum willst du unbedingt, dass sie ein schlechtes Gewissen bekommen? Gestatte ihnen lieber, zu vergessen. Mama war schrecklich alt, und es ging sehr schnell.«

      Einem Nachtfalter war es gelungen hereinzukommen und sich an der Lampe zu verbrennen. Ada sagte rasch: »Lass mich« und zerdrückte das Insekt mit einer Kaffeetasse.

      »Mach die Lampe aus!«, rief Ina.

      Als es auf der Veranda dunkel wurde, kam der Garten näher, mit Silhouetten von Bäumen, die sich im Nachtwind bewegten. »Aber ich will, dass sie sich erinnern«, sagte Ina. »Warum soll ich die Einzige sein, die sich erinnert?«

      »Was weißt du schon, woran die sich erinnern«, bemerkte Ada. »Übrigens trafen sie Mama meistens nur an irgendwelchen Feiertagen. Das mit der Badezimmerdecke bedrückt sie nur.«

      »Und das geschieht ihnen recht, Ada, das geschieht ihnen ganz recht! Da war sie, ganz allein …«

      »Ja, ja. Ich weiß. Mama klettert auf eine Leiter, um die Badezimmerdecke zu streichen, selbstständig und wie immer klammheimlich. Und dann passiert Folgendes: Sie vertraut niemandem, nur sich selbst, sie fällt von der Leiter und bricht sich das Genick. Sie ist über achtzig. Ein guter Abgang. Und jetzt predigst du, wir hätten Gott weiß was tun sollen, um ihr noch weitere zehn Jahre zu ermöglichen! Ina, du weißt doch, im Innersten war sie ziemlich, ja – ziemlich …«

      »Überhaupt nicht«, protestierte Ina, »überhaupt nicht!« Sie fuhr hoch und begann auf der Veranda auf und ab zu gehen.

      »Sie war überhaupt nicht despotisch!«

      »Aber das hab ich nie gesagt!«

      »Aber das hast du damit gemeint!«

      »Setz dich«, sagte Ada, »setz dich um Himmels willen und beruhige dich. Ich weiß, was du nie aussprechen kannst, jetzt lass es ausnahmsweise mal gesagt sein – erinnere dich bitte: Was macht Mama jetzt, wo steckt sie, warum schweigt sie so hartnäckig, ist sie gekränkt oder geht es ihr irgendwie schlecht, was habe ich gesagt oder nicht gesagt oder getan – das alles wissen wir doch noch, na und?«

      »Du klingst so hart«, sagte Ina. »Mama war wunderbar.«

      »Setz dich endlich.«

      »Ada, weißt du, damals, als es passierte, hab ich Zahnschmerzen bekommen, und der Arzt sagte, das hätte damit zu tun, dass ich immerzu die Zähne zusammenbiss.«

      »Ja, ja, hast du schon erzählt. Setz dich. Du wirst mir jetzt zu anstrengend, und dir geht es genauso. Fang jetzt bloß nicht an zu weinen. Ich hole Kerzen.«

      Ada kam mit zwei brennenden Kerzen zurück, stellte sie auf den Tisch und sagte, sehr freundlich: »Ina, lässt sich eine angenehmere Art zu sterben überhaupt vorstellen? So geschickt, und kein einziger Mensch war daran schuld! Sie hatte ihren Spaß, begreif das doch, es hat ihr Spaß gemacht! Und es blieb ihr erspart, im Ernst alt zu werden. Sie befand sich in einem neuen Trotzalter, und was hätten wir groß dagegen tun können?«

      Jetzt weinte Ina.

      »Ja, ja, genau«, sagte ihre Schwester. »Was willst du eigentlich? Vielleicht, dass du die Decke hättest streichen sollen? Fleckig und halbfertig ist sie immer noch, und ich kann mir gut vorstellen, dass du jedes Mal die Augen schließt, wenn du zum Zähneputzen hineinkommst … Bist du etwa zu diesem schlechten Gewissen verpflichtet? Als ob du auch nur das Recht dazu hättest!«

      »Jetzt bist du diejenige, die predigt!«, rief Ina aus. »Jetzt weißt du alles besser als alle anderen, genau wie Mama! Darf man nicht einmal in Ruhe trauern!«

      »Gut. Tu das. Du hast natürlich das Monopol darauf. Hier hast du ein Taschentuch. Ina. Überleg doch. Es ist so einfach: Mama musste unbedingt alles selbst machen, sie kam uns immer zuvor und hat sich auf nichts und niemand verlassen! So war das!«

      »Freilich verließ sie sich auf etwas«, sagte Ina.

      »Wie meinst du das?«

      »Sie verließ sich darauf, dass wir sie in Ruhe lassen würden.«

      »Ha, das war gut!«, bemerkte Ada. »Sehr gut sogar! Und wir haben sie in Ruhe gelassen. Das ist das Beste, was du seit Langem gesagt hast.«

      »Findest du wirklich?«

      »Ja, das finde ich. Liebste Ina, könnten wir jetzt nicht zu Bett gehen?«

      »Geh du nur, ich bleibe noch ein bisschen.«

      »Und denkst hoffentlich daran, die Kerzen ordentlich zu löschen?«

      »Komisch«, bemerkte Ina. »Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Ja, ja. Ich werde die Kerzen schon löschen.«

      In jener Nacht kam es