Tim Farin

Cape to Cape


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muss.« Philipp hat Tränen in den Augen. Er hat Angst vor dem Urteil seines Begleiters und vor dem Urteil aller anderen.

      Oben angekommen, rückt Philipp raus mit der Sprache. »Und ich bin erleichtert«, sagt er, »denn Jonas hat wirklich super reagiert.« Jonas ist ein Meister darin, das Positive aus der negativen Botschaft herauszuschälen und die Mühen in seiner großen Geschichte umzudeuten. In einem Moment wie diesem macht er von dieser Einstellung, die er seit Jahren pflegt, Gebrauch. »Das wird schon wieder«, sagt er zu Philipp. »Du musst eben eine Weile in meinen Windschatten, dann geht es auch bald wieder.« Jonas hat dafür eine einfache Formel. Probleme wie dieses gehören zu Mammutprojekten dazu. In neun von zehn Fällen erledigen sie sich von selbst, wenn man sich nur darauf einlässt. Philipp bekommt in seiner großen Krise am zweiten Tag ein Live-Coaching vom erfahrenen Bühnenredner. »Ich wollte ihn auf positive Gedanken bringen und nicht, dass er von einem Problem zum nächsten fährt.« Kaum etwas ist unüberwindbar, wenn man es in kleine Portionen verwandelt und die Techniken anwendet, um die kleinen Herausforderungen immer ein Stück weit zu meistern.

      Es ist ein früher Moment, doch es ist ein entscheidender für die kommenden Aufgaben. Die Knieschmerzen sind durch gutes Zureden nicht verschwunden, aber Philipp kann mit ihnen umgehen. Jonas lenkt den Fokus auf die einfachen, kontrollierbaren Dinge. Jeden Tag zehn bis elf Stunden im Sattel. Schnell aus der »kritischen Zone«, wie er sagt. Ganz oben im Norden Finnlands kann auch jetzt noch jederzeit der Winter einbrechen. Drei, vielleicht vier Tage muss das Duo mit dieser Gefahr klarkommen, ihr im Geiste entkommen. Philipp geht in Schonhaltung, in den Windschatten. Er dreht und dreht die Kurbel hinter dem erfahrenen Mann mit dem braunen Bart, der so klar weiß und sagt, was er will. Eine Last ist Philipp los, jetzt kann er sich auf das Kämpfen konzentrieren.

       »Das wird schon wieder«, sagt er zu Philipp. »Du musst eben eine Weile in meinen Windschatten, dann geht es auch bald wieder.« Jonas hat dafür eine einfache Formel. Probleme wie dieses gehören zu Mammutprojekten dazu.

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      Radler-Romantik: Am Lagerfeuer und auf der Straße wächst das Duo zusammen.

      DURCHHALTEN IN ERHABENER NATUR

      Skandinavien hat seinen Reiz und seine Tücken. Man kann die fast unberührte Natur in den Blick nehmen, eine Landschaft wie für Postkarten gemacht. Aber man muss sich eben durch diese Landschaft bewegen. Der Wind bläst den beiden immer noch ins Gesicht, Jonas bekommt die Hauptlast ab. Es wird kühler, gegen null Grad zwischendrin. Sie durchqueren die Seelandschaft im Norden Lapplands. Es fängt an zu regnen. »Wir müssen uns jeden Kilometer erkämpfen«, sagt Philipp, als sie am dritten Tag unterwegs sind ins finnische Städtchen Sodankylä. Am Abend vorher haben sie ein Lagerfeuer an einem Fluss gemacht. Sie sind im Survival-Modus. Es gibt keine Hotels. Philipps Knie tut weiter weh – und ihm ist kalt. Er leidet, aber das Leiden fühlt sich jetzt anders an. »Es ist, als würden die Schmerzen durch den Körper wandern, immer weiter, bis sie wieder da sind, wo sie am Anfang waren. Das scheint zu solch einer Fahrt dazuzugehören«, sagt er. Er sieht es als Teil der Herausforderung.

      Die erhabene Natur fordert Durchhaltevermögen. Man sieht kaum einmal Menschen. Die wenigen, die sie treffen, etwa in Tankstellen oder Supermärkten, reden nicht. Es wirkt, als wäre da eine Scheibe zwischen ihnen. Hier ist Einsamkeit verankert. Die Straßen sind schnurgerade, und wenn der Blick nach vorn wandert, um sich an irgendetwas festzuklammern, ist das nur wieder eine dieser ekeligen Rampen vor den beiden. Immer wieder geht es steil hinauf. Oben geht es schnurgerade weiter. Die Wege sind weit bis zum nächsten Kaffee, zum nächsten Snickers, dem nächsten Motivationsschub. Aber es geht eben nicht nur um Genuss, sondern um blanke Biophysik. Die beiden brauchen Kalorien zum Verbrennen. In der menschenleeren Gegend gibt es keine kulinarischen Reize mehr. Wenn sie Glück haben, sind sie schneller an einer Tankstelle oder einem Supermarkt, als der Hunger in ihnen aufsteigt. Jede Raststätte nehmen sie mit, nicht zum Ausruhen, sondern zum Auftanken.

      In Philipps Körper wachsen neue Schmerzen heran, die fürs Knie schonende Haltung auf dem Sattel drückt in den Schritt, am Gesäß tut es nicht nur weh, er hat schon eine offene Stelle. Jedes Mal, wenn er sich nach einer Pause in einem kühlen Supermarktfoyer wieder auf sein Rad setzt, durchziehen ihn gewaltige Schmerzen. Aber es geht weiter.

      STOPP IN DER KLINIK

      Währenddessen geht Jonas’ fröhliche Erzählung weiter, als wäre nichts gewesen. Im Kontrast mit Philipp fällt das besonders auf. Abends füllt er Instagram und seine Notizen mit positiven Gedanken. »Du musst hier jeden Tag genießen«, sagt er, »ich weiß, was in Russland auf uns zukommt. Lass uns hier mentale Kraft tanken.« Dann schläft er friedlich in seinem feuchten Schlafsack. Es gibt wichtige mentale Haken hinter den Etappen. In Rovaniemi verlassen sie schon am dritten Tag den Polarkreis. Sie lassen ihre Winterkleidung dort zurück. Das spart Gewicht.

      Kurz vor Kilometer 1.000 auf ihrer Reise kommen sie abends um halb zehn hungrig in Puolanka an. Den Ort am See mit etwa 2.000 Einwohnern haben sie sich auf der Landkarte ausgesucht, weil sie hier Restaurants und Schlafplätze erwartet haben. Doch alles ist geschlossen. Sie haben Hunger und nichts mehr zu essen. Alle Gels und andere Nahrungsmittel haben sie unterwegs vertilgt. Sich ohne Essen hinzulegen ist eine schlechte Idee, das würde sie am nächsten Tag Kraft kosten. Philipp entdeckt eine Krankenstation und überredet Jonas, dass sie dort klingeln. Jetzt ist Philipp der Macher. Eine freundliche Krankenschwester öffnet die Tür. Sie hört sich die Story der beiden an und handelt sofort. Aus der Personalkantine der Station holt sie, was sie finden kann, und die beiden Radler aus Deutschland setzen sich dahin, wo sonst das Medizinpersonal isst. Man plaudert ein wenig. Es ist in diesen Tagen der erste Austausch mit einem Menschen, der nichts mit dem Rekord zu tun hat. Jetzt sieht Philipp auch die Gelegenheit, seine Leiden anzusprechen. Vor der Krankenschwester lässt er die Hose runter – er zeigt eine nicht nur wunde Stelle, sondern eine inzwischen golfballgroße Verhärtung am Hintern. »That’s not looking good«, sagt die Frau. Sie empfiehlt, die Stelle am nächsten Tag von einem Arzt kontrollieren zu lassen.

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      Straßen-Partner: Philipp verrät endlich sein Geheimnis – und es rollt sich dann besser weiter.

      Doch als der Arzt am nächsten Morgen in die Station kommt, sind Philipp und Jonas längst wieder unterwegs. Sie haben auf der Veranda vor der Krankenstation übernachtet, wieder im Schlafsack. Sie haben beschlossen, die Sorge wegzustrampeln, mit der Dämmerung hat der Wecker geklingelt, eine halbe Stunde später waren sie auf der Straße. »Das ist ja keine Tour-de-France-Ärztin«, konstatiert Jonas. Jeder Pfleger, jede Schwester, jeder Arzt ohne Bezug zum Radfahren und zu ihrem Projekt würde dasselbe sagen. Aber hier müssen andere Maßstäbe her. Sicher, so eine Stelle sieht nicht gut aus. Aber darum geht es ja nicht. Es geht ums Weiterkommen. Philipp schmiert Creme auf die wunde Stelle und fährt weiter. Auf Kilometer 1.000 zu, der schon früh am Morgen geschafft ist.

       Heute wollen sie die nächste Grenze passieren, den Schritt machen in ein ganz anderes Kapitel: hinüber nach Russland, jenes Land, vor dem Jonas nicht nur Respekt hat, sondern tatsächlich Angst. Aber erst einmal genießt er noch das Hochgefühl, denn der Wind dreht sich am Nachmittag.

      DER WEG NACH SANKT PETERSBURG

      Jonas ist gut aufgelegt. Okay, sie sind ein bisschen hinter Plan. Mit dem starken Gegenwind, der seit Tagen konstant weht, war nicht zu rechnen. »Aber es wird auch wieder Rückenwind kommen, das weiß ich, das wird sich ausgleichen«, sagt er. Philipp spürt jetzt, dass der Schmerz in seinem Knie nachlässt. Er geht immer öfter für lange Zeit in die Führung. »Ich habe das Gefühl, dass er jetzt stärker wird. Philipp hat jetzt angefangen mit zu pushen.«

      Wie jeden Abend schauen sich die beiden auch nach fünf Tagen auf dem Smartphone an, wie weit sie schon gekommen sind. Es ist erstaunlich. Auch wenn sie objektiv noch ganz am Anfang dieser Reise sind, die blaue Linie von Nord nach Süd ist schon gut zu erkennen, sie haben