ich ihm zurufen wollte: Hey, du verdirbst dir die Augen! Das Land lockt dich schnell ins Garn. Aber natürlich sagte ich nichts, sah ihm nur zu beim Schauen, in der diebischen Freude, ihn mir verbündet zu haben.
Und ja, den Verbündeten braucht’s, als Mitwisser und Komplizen und als Bewährungshelfer – einen zum Pferdestehlen, der mich zugleich vorm Absturz ins eigene Selbst bewahrt. Nichts kann tiefer fallen als was geschrieben steht – schon mit dem nächsten Satz. Während unserer Arbeit an meinem ersten Buch kannten wir einander nur vom Hörensagen, Hin-und-her-Mailen und stundenlangen Telefonieren. Gegen seinen Vorschlag, uns via Skype zu verbinden, hatte ich mich gesträubt. Auch gegen manchen Einwand. So meinte er zum Beispiel, es sei zu dick aufgetragen, vom Zigaretten-Austöten zu schreiben, wenn da einer bloß eine Kippe ausdrückt. Dann fragte er allen Ernstes, was das Wort Einschauen bedeute. Und ich begann zu erzählen von den Versteckspielen, die ich als Kind so mochte – Wie sagt man denn sonst, wenn einer, ehe er mit der Suche beginnt, abgewandt von den andern, die Hände überm Gesicht, laut und langsam bis zehn zählt? Oder gibt es das Einschauen in deiner Sprache nicht? Komm, sei mein Sparringspartner im Kampf um das letzte Wort! Was habe ich gebockt! Überhaupt meine Sturheit, die Launen und Kapriolen! Er nimmt sie erstaunlich gelassen, sieht mir den Überschwang nach, nicht nur in den Geschichten. Wie oft ist er zugestiegen, ohne das Ziel zu kennen – Komm, lass uns losziehen! Hauptsache raus! Gerne denke ich an unsere Autofahrten. Einmal der Stau auf der Rückfahrt von Brač, der flimmerndheiße Asphalt. Und einmal das Kehrtmachenmüssen, als wir nach einer Lesung in Hannover einen Ausflug nach Hamburg machen wollten und es auf der Autobahn heftig zu schneien begann. Hatten wir Sommerreifen? Von anderen Expeditionen schreckte er trotz mangelhafter Ausrüstung nicht zurück. Ich erinnere mich, wie wir bei Wind und Nieselregen auf den rutschigen Steilhängen eines Kärntner Bergs herumhirschten, weil ich mir in den Kopf gesetzt hatte, justament an diesem Tag in die Pilze zu gehen. Er hatte gleich eingewilligt, schien mir nicht überrumpelt, trotz seiner Schönwetterkleidung – helle Hose, sehr helles Hemd, die Schuhe, glaub ich, aus Leinen. So stach er hell aus dem Dunkel des Walds, ein sehr deutscher Sucher, nein Forscher, im properen Schutzanzug. Später, als wir uns wieder bei meinem Wagen trafen, war er völlig durchnässt, dabei aber fündig-heiter.
Nie vergesse ich ihm, wie er im September 2015, da man die Züge an der deutsch-österreichischen Grenze stundenlang anhielt, um der Flüchtenden Herr zu werden, auf abenteuerlichen Wegen zu Fuß über die Grenze kam, um am Salzburger Literaturhaus meine erste Österreich-Lesung zu moderieren! Über die Jahre ist mir mein Lektor ganz schön ans Herz gewachsen mit seinen Redensarten, der geheimschriftartigen Handschrift, den lakonischen Randnotizen – und der ehrenden Annahme, ich verstünde ihn, wenn er von Interjektionen spricht oder Konjunktiven, Modalverben, all dem Partizip- und Plusquamperfektzeug – oder Frikadellen und Stullen … Und wie er die Contenance wahrt, wenn die Pferde mit mir durchgehen, und wie er mich vornehm zurückpfeift, weil er mir offenbar zutraut, sie irgendwie zu bezähmen. Ja, ich weiß, ich weiß … Ein Raunen in Moll kann ihn nerven, ein durchgehend hoher Ton, oder ein Schachtelsatz, bei dem er, wie er es nennt, schnell aus der Kurve fliegt. Je schärfer der Einspruch ausfällt, desto größer die Gunst, die er mir damit erweist: »Ich hoffe, du denkst jetzt nicht, dass ich dich zum literarischen Spaßbolzen umerziehen will, Bachmann und Celan und viele andere haben auch einen Grundton, und es wäre schlicht blöd zu verlangen: He, Celan, mach uns doch mal ’n Gassenhauer!« Möglich, ich könnte auch anders. Aber das will ich nicht. Stattdessen sage ich trotzig: Ah, wie gut brennt Papier! Und hoffe insgeheim wieder auf meinen lieben Retter.
Na sto!
LUKAS BÄRFUSS
Der Marktwagen
Ob ich über die Dauer und die langfristige Wirkung meiner Werke nachdenke, fragen Sie mich? Nun, das tue ich gewiss, sogar sehr gerne und bei jeder Gelegenheit, auch wenn ich so wenig wie irgendjemand sonst die geringste Ahnung habe, was die gemeinsame Eigenschaft langlebiger Texte sein könnte. Abgesehen natürlich vom physischen Überdauern des Mediums, auf dem sie festgehalten werden. Auch deshalb schreibe ich zuerst auf Papier. Es gibt keinen elektronischen oder digitalen Speicher. Keine dort abgelegte Information wird die nächsten Jahrzehnte überleben. Festplatten sind Mülldeponien, man sollte ihnen nichts Kostbares anvertrauen.
Apropos überleben: Die erste Aufgabe, bevor er überhaupt vom Ruhm in der Nachwelt träumen kann, besteht für den Schriftsteller darin, an seinem Gewerbe nicht zugrunde zu gehen. Das ist keine leichte Sache. Obwohl man oft das Gegenteil hört und Scheitern fast mythisch überhöht wird: In der Literatur sind Niederlagen in der Regel tödlich. Die Tätigkeit eines Schriftstellers ähnelt jener von Bergsteigern, die ohne Seil und Sicherung in eine Wand steigen. Wer findet, der Vergleich sei prahlerisch und unangemessen, da diese Alpinisten bei einem Fehlgriff unweigerlich den Tod fänden, ich jedoch höchstens einen schlechten Text riskiere, der möge bedenken, dass es neben der physischen auch die psychische Vernichtung gibt und diese in meinem Gewerbe täglich droht. Um dies festzustellen, braucht man weder Gabe noch Vorliebe zur Selbststilisierung. Ein Blick in die Literaturgeschichte genügt, um das Berufsrisiko der Schriftsteller zu ermessen. Wer braucht Kenntnisse in Statistik, um als Schriftsteller mit Alkoholismus, der Irrenanstalt oder mit Selbstmord zu rechnen – und zwar häufig in dieser Reihenfolge? Man mag sich fragen, was hier Ursache und was Folge sei, ob die Literatur besonders häufig Menschen interessiere, die eine bestimmte Prädisposition mitbringen, oder ob die Literatur diese Disposition erst verursache. Sicher ist: Dieses Gewerbe zieht Naturen an, die nicht dafür geeignet sind und daran Schaden nehmen. Umgekehrt werden auch gesunde Geister von den Anstrengungen und Entbehrungen der Literatur aufgerieben und zerrüttet. Jeder Kochlehrling wird in Gesundheitsvorsorge unterrichtet, und man lässt niemanden in die Küche, der die Sicherheitsvorschriften nicht befolgt. In die Literatur jedoch schickt man die zerbrechlichsten Gemüter, man wähnt sie durch ihre Sensibilität geeignet und entsendet sie in die gefährlichsten Zonen ohne Schutz und Ratschlag.
Worin die Gefahr liege, fragen Sie mich? Das ist einfach zu beantworten. Das Universum erscheint dem menschlichen Geist als undurchschaubares Chaos. Schreiben bedeutet, sich in dieses Chaos zu stellen und in einem sehr beschränkten Bezirk eine Ordnung zu erzwingen. Das ist nicht schwierig. Jeder ist dazu in der Lage. Für ein paar Seiten mag es immer gelingen. Die Herausforderung besteht darin, es Tag für Tag zu unternehmen, was so gefährlich wie notwendig ist. Denn wie bei jeder Tätigkeit nimmt auch bei dieser die Fähigkeit mit der Zahl der Wiederholungen zu. Übung macht nur einen Meister, sofern sie den Lehrling vorher nicht umbringt, und mit jedem Versuch steigt das Risiko, ihn seelisch und geistig nicht zu überstehen. Bereits der erste Schritt ist eine aufreibende Aufgabe: diesen Bezirk zu definieren, jenen Raum, den man für eine gewisse Zeit vom restlichen Universum abkoppeln muss, um ihn überhaupt beschreiben zu können. Zur Veranschaulichung mag die Analogie mit der Tätigkeit eines Chirurgen dienen. Um das Organ operieren zu können, muss er es von der Blutversorgung trennen. Und gegenüber dem Schriftsteller besitzt er einen Vorteil: Er hat sich in Pathologie und Anatomie geübt, hat am toten Material gelernt, und er kennt deshalb die Physiologie des Organismus, er versteht die Form und die Funktion der verschiedenen Gewebeformen, weiß, welchen Strukturen er sich mit welchen Instrumenten nähern darf, wo er also welchen Schnitt anbringen kann, damit er das System mit seinem Eingriff nicht zerstört. Der Schriftsteller hingegen weiß nie, was die Störung verursacht, er sieht nur, es gibt eine Differenz, eine Unruhe, denn andernfalls gäbe es keine Aufmerksamkeit. Harmonie bleibt immer unbemerkt. Bescheidenere Naturen beschränken sich deshalb auf Operationen an toten Modellen und ergehen sich in den Schemata der bekannten Genres. Dort ist nichts zu riskieren, aber leider auch nichts zu gewinnen.
Vielleicht lässt sich dies an einem kleinen Beispiel erläutern. In diesem Augenblick sitze ich in einem Straßencafé im 20e Arrondissement in Paris, unweit der Place Gambetta. Vor wenigen Minuten erregten zwei Männer am Nebentisch meine Aufmerksamkeit. Falls ich die Herren beschreiben will, muss ich klären, worin genau die Störung liegt, die sie in meinem Bewusstsein verursacht haben, denn die Beschreibung dieser Störung fällt zusammen mit der Beschreibung ihrer selbst. In der Wirklichkeit ist diese Klärung nicht notwendig. Sie ergibt sich alleine durch die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, die leider bis heute in der