Bernd Völkl

Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt: Reclam Lektüreschlüssel XL


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sie das erste Mal die Szene betritt, lassen ihr großes Gefolge, ihr übertriebener Schmuck, aber auch ihre als seltsam beschriebene Grazie die »Dame von Welt« (S. 22) erkennen. Sie tritt bestimmend auf und geht davon aus, dass es ihr Glaube an die Macht des GeldesReichtum ihr erlaubt, gültige Regeln einfach zu ignorieren. Als der Zugführer dagegen protestiert, dass sie die Notbremse gezogen hat, bringt sie ihn mit einer Summe zum Schweigen, die für ihn viel Geld, für sie aber nicht der Rede wert ist, weil sie so reich ist, dass ihr die Welt gehört. Ganz offen erklärt sie, dass sie sich die Gerechtigkeit kaufen wird, denn sie kann sie sich leisten. Die beiden falschen Zeugen werden die ersten Opfer ihrer Rache. Sie lässt sie weltweit suchen und dann blenden und entmannen.

      Im Gespräch mit Ill beschreibt sie ganz offen, wie sie zu ihrem Reichtum kam. Sie hat in einem Hamburger Bordell gearbeitet, wo sie den alten Zachanassian mit ihren roten Haaren beeindruckt hat. Sie hat in all den Jahren seitdem nie vergessen, was ihr von Ill und den Güllenern angetan wurde. Vor ihrer Ankunft in Güllen hat sie alles von langer Hand Gut vorbereiteter Racheplanvorbereitet und will nun unerbittlich abrechnen. Ihre Persönlichkeitsentwicklung ist abgeschlossen. Sie ist die einzige Figur, die sich im Laufe des Dramas nicht verändert, sondern all das durchsetzt, was sie sich vorgenommen hat.

      Ihre Gatten sind für sie keine Partner auf Augenhöhe. Das wird vor allem deutlich, als der siebte Austauschbare GattenGatte auf Befehl nachdenkt. Gleich als sie in Güllen ankommt, gibt sie ihm Anweisungen, wo er zum Fischen gehen kann. Sie nennt ihn nicht bei seinem richtigen Namen, sondern passt den Namen an den des Butlers an, weil man den Butler und nicht den Gatten ein Leben lang als Begleiter hat. Auch gegenüber dem Butler gebraucht sie durchgehend den Befehlston.

      Bei den Szenen mit den Gatten spielt Dürrenmatt mit Kontrasten. Claires neunter Gatte, ein Nobelpreisträger, wird aufgefordert, einmal nicht zu denken, ganz im Gegensatz zu ihrem siebten Gatten. Ihn schickt sie während des Gesprächs mit Ill zum Forschen. Dass er ihr Vermögen verwalten will, verursacht bei ihr Unbehagen: »Einen Mann hält man sich zu Ausstellungszwecken, nicht als Nutzobjekt.« (S. 114)

      Von dem Gatten, der mit in Güllen angekommen ist, lässt sie sich scheiden, weil sie einen Verwirklichung eines JugendtraumsJugendtraum verwirklichen will. Sie will im Güllener Münster getraut werden. Eigentlich wollte sie Ill heiraten. Als Ersatz muss nun ein deutscher Filmschauspieler dienen. Nach der Hochzeit sitzt sie dann allein im Brautkleid in der Peterschen Scheune und erinnert sich an ihre Jugendzeit. Ganz im Gegensatz zu Ill bedeutet ihr der Schauspieler nichts, gleich nach der Hochzeit wird die Scheidung eingereicht. Dürrenmatt weist ausdrücklich darauf hin, dass alle Gatten vom gleichen Schauspieler dargestellt werden können (S. 113). Das macht auch dem Publikum sichtbar, wie austauschbar sie sind.

      Claire Zachanassian geht sehr Zielstrebiges Vorgehenzielstrebig vor. Bewusst lässt sie die Pressevertreter, die von der Hochzeit mit dem Gatten VII berichten wollen, weiterfahren, als sie in Güllen aussteigt, denn bei den ersten Gesprächen mit den Güllenern kann sie keine Presse brauchen. So ist auch bei dem Empfang im Rathaus kein Fremder dabei, als sie eine Milliarde für den Tod Ills bietet. Die Presseleute kommen erst wieder, als die Hochzeit mit dem Gatten VIII gefeiert wird.

      In ihrem Wunsch nach Rache, sie nennt es Gerechtigkeit, ist sie unerbittlich. Das versprochene Geld gibt es nur beim Tod von Ill. Sie hat keinen Zweifel, dass sie ihren Willen durchsetzen wird, denn die Welt wird von ihr als käuflich bezeichnet. Sie hat alles genau vorbereitet und den Ort Güllen bewusst ruiniert, damit die Güllener ihr Angebot annehmen müssen. Indem sie Ill vernichtet, will sie die Vergangenheit ändern. Sie will ihn als Toten für sich haben. Als sie ihr Ziel erreicht hat, überreicht sie den versprochenen Scheck und reist mit dem Sarg nach Capri, wo sie für ihn ein Mausoleum errichtet hat.

      Alfred Ill

      Ill, ein stark gealterter Ladenbesitzer, ist in Güllen angesehen und beliebt und soll deshalb zum neuen Ill, der nächste BürgermeisterBürgermeister gewählt werden. Er wird sogar als der beliebteste Bürger der Stadt bezeichnet. Er erinnert sich noch gern an seine heiße Liebe zu Klara Wäscher. Seine Schuld am Ende ihrer Beziehung scheint er verdrängt zu haben. »Das Leben trennte uns, nur das Leben, wie es eben kommt.« (S. 18)

      Auch beim Besuch der früheren Liebesorte ist er anfangs nicht ehrlich. Es stimmt nicht, dass er Klaras Glück wollte und nur ihr zuliebe Mathilde Blumhardt geheiratet hat. Ihm ging es um den Ill hat Klara für Geldes verlassenKleinwarenladen, in den er eingeheiratet hat (S. 37). Für ihn war das offensichtlich ein sozialer Aufstieg. Dafür hat er nicht nur die schwangere Geliebte verlassen, sondern auch die Vaterschaft geleugnet. Im Prozess hat er falsch ausgesagt und auch andere zum Meineid angestiftet. Doch Ill, dem es bei all dem nur ums Geld ging, wird nun selbst ein Opfer der Macht des Geldes werden, über das Claire Zachanassian verfügt.

      Im Gespräch mit ihr beschreibt er schonungslos offen, Ill – ein verkrachter Krämersein »lächerliches Leben« als »verkrachter Krämer« (S. 38). Er hat ein sinnloses, langweiliges Leben geführt, ist arm, hat kaum etwas von der Welt gesehen, und seine Familie macht ihn auch nicht glücklich. Dazu passt, dass seine Frau als ausgemergelt und verbittert beschrieben wird.

      Die Aufgabe, die Millionen aus ihr herauszulocken, übernimmt er gerne, weil doch ein attraktives Amt in Aussicht steht. Als Claire bei der Ankunft an die frühere Liebe erinnert, schätzt Ill die Situation vollkommen Ill schätzt die Situation falsch einfalsch ein, als er dem Lehrer stolz erklärt: »Sehen Sie, Herr Lehrer, die habe ich im Sack.« (S. 25) Er empfindet alles, was Claire sagt und was schon auf seinen Tod vorausdeutet, als Witz. Das ist anfangs auch noch beim Empfang im Rathaus so, als Claire den Turner fragt, ob er schon einmal jemand erwürgt hat. Er kann auch zuerst nicht wirklich glauben, was Claire fordert. »Ill steht auf, bleich, gleichzeitig erschrocken und verwundert.« (S. 46) Am Ende sagt er: »Zauberhexchen! Das kannst du doch nicht fordern! Das Leben ging doch längst weiter!« (S. 49) Er ahnt noch nicht, wie ernst es Claire mit ihrer Forderung ist.

      In seiner schwierigen Situation gibt ihm die Familie keinen Kein Rückhalt bei der FamilieRückhalt. Alle drücken sich davor, mit ihm zu frühstücken. Die Mutter gibt vor, dass sie »müde« (S. 51) sei, der Sohn und die Tochter suchen irgendeine Arbeit, um Geld zu verdienen. Er erlebt, dass die Familie zunehmend auf Distanz geht und sich genauso verschuldet wie der Rest des Ortes.

      Ill wird bewusst, dass er verloren ist, als er beobachtet, wie sich die Güllener immer mehr verschulden. Er verspürt Todesangst, die in ihm eine Schwere innere Kämpfeexistentielle Krise und schließlich eine Veränderung auslöst, die sich von der Entwicklung der Güllener vollkommen unterscheidet. Die Güllener erliegen der Versuchung des Geldes und werden kollektiv an dem Tod Ills schuldig, verdrängen aber dann diese Schuld. Ill dagegen denkt in seiner Todesangst über sein bisheriges Leben nach, erkennt seine Schuld und ist bereit, dafür zu sühnen. Er will nicht mehr um sein Leben kämpfen und seinen Fall auch nicht an die Öffentlichkeit bringen. Er nimmt das Urteil seiner Mitbürger an. Einen Selbstmord lehnt er ab und macht es damit den Güllenern nicht leicht. Nach seiner inneren Wandlung ist er sogar fähig, mit der Familie eine Autofahrt zu unternehmen, mit dem auf Pump gekauften Auto und der neuen teuren Kleidung.

      Im Gespräch mit dem Lehrer bekennt er sich zu seiner Schuld. Seine neue Ehrlichkeit gegenüber der eigenen Vergangenheit gibt ihm auch die Kraft, Klara nach dem Schicksal des gemeinsamen Kindes zu fragen. Die innere Wandlung Ills kann seine Überwundene TodesangstAngst aber nicht ganz beseitigen. Auf die Frage des Pfarrers, ob er sich fürchte, antwortet er: »Nicht mehr sehr.« (S. 128) Als er in die Gasse gehen soll, die die Güllener gebildet haben, zögert er. Er muss dreimal aufgefordert werden, bevor er sich langsam hineinbegibt.

      Bürgermeister

      Der Bürgermeister nimmt seine Aufgabe sehr ernst und will beim Empfang der Milliardärin alles richtig machen. Deswegen baut er auch stark auf Ill, weil dieser mit ihr früher befreundet war. Sein Verhalten gegenüber der Milliardärin wirkt Anbiedernd und aufrecht zugleichanbiedernd. Um sie günstig zu stimmen, hält er beim Empfang für Claire eine verlogene Rede, in der die Vergangenheit verfälscht wird. Dennoch orientiert er sich an moralischen Werten. Als Repräsentant der Bürgerschaft lehnt er das Angebot der Milliardärin im Namen der Menschlichkeit unter großem Beifall ab.