Gerhard Köpf

Palmengrenzen


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gingen von Italien aus. La Grande Bellezza ist etwas Italienisches. Trotz all der Verwerfungen in Vergangenheit und Gegenwart: Ich glaube an Italien.

      Wie lange es die Mafia schon gibt, ist mittlerweile eine Frage unter Gelehrten. Ich will nicht bis ins 13. Jahrhundert zurückgehen, sondern mich auf die jüngere Geschichte beschränken: Sicher ist, dass die Landung der Alliierten in Italien in Kooperation mit der sizilianischen Cosa Nostra vorausgeplant war, vermittelt durch Lucky Luciano, der in New York im Gefängnis saß und vom Geheimdienst der US-Marine speziell zu dem Zweck befreit wurde, um das Stillhalten seiner Landsleute, der paisà, gegenüber den amerikanischen Soldaten auszuhandeln. Über die Mafia sind viele Lügen erzählt worden, denn keiner kennt die ganze Wahrheit. Darum wird auch manches von dem, was ich hier berichte, unverbürgt bleiben müssen, vielleicht sogar Widerspruch finden. Aber ohne Widersprüche ist auch Authentizität nicht möglich.

      Neben dem Thema der Henkersmahlzeit konzentriere ich mich in meiner Arbeit als Privatgelehrter auf Forschungen zum organisierten Verbrechen. Besonders aufschlussreich und anregend war das Studium der Publikationen des palermitanischen Psychiaters Prof. Dr. Girolamo Lo Verso: La mafia dentro: psicologia e psicopatologia di un fondamentalismo (2001) sowie La psiche mafiosa. Storie di casi clinici e collaboratori di giustizia (2002) und La mafia in psicoterapia (2013).

      Bei der Lektüre dieser Werke gewann ich Einblicke in verschiedene Geschehensabläufe, die sich den Kenntnissen der offiziellen Gerichtsbarkeit entziehen. Prof. Lo Verso, der Frauen und Kinder von Mafiosi therapiert und pentiti, wie man reuige Aussteiger nennt, unter seinen Patienten hat, glaubt an die Theorie der frühkindlichen Prägung und Konditionierung, und meint, die Seele eines Mafioso funktioniere wie die eines Fundamentalisten: „Er ist kein Individuum, sondern Teil einer Armee.“ Ab der Pubertät werde der zukünftige Killer getestet: Er darf keinen Umgang mit Homosexuellen, Kommunisten und Polizisten haben, er soll Mitschüler schlagen, bei Morden zuschauen. Er lernt, zuerst einen Ladendiebstahl zu begehen, ein Moped anzuzünden, auf einen Hund, dann auf Leichen zu schießen. Er werde zur Belohnung zu Tötungsaktionen mitgenommen und habe eines Tages keine Schuldgefühle mehr. Das Töten werde für ihn zur „bürokratischen Routine“, ganz ohne Albträume und frei von Emotionen: „Der Feind hat kein Gesicht, er wird zerquetscht wie ein Insekt. Und Mafiosi haben ein unterentwickeltes Sexualleben. Die meisten leiden unter einer Eiaculatio praecox. Ehefrauen sind Mütter und Komplizinnen. Potent ist der Mafioso nur mit der Pistole. Kommandieren ist besser als Ficken“, sagt Prof. Lo Verso. Vielleicht ist das aber nur Wunschdenken, das den Killer wenigstens im Bett einen Versager sein lässt.

      Lo Versos Theorie, ein Mafioso könne nicht lieben, weil er kein Ich habe, ist fragwürdig. Er hat sehr wohl ein Ich, das er über Macht und Abhängigkeit definiert. Seine Ich-Schwäche ist die Ich-Schwäche einer dependenten Persönlichkeit. Ich vertrete die These, alle Mafiosi spotten in ihrer Vielfalt jedweder vereinheitlichenden Theorie. Jeder hat seine eigene Handschrift. Heute operiert die Ehrenwerte Gesellschaft nämlich geräuschlos, frei nach der sizilianischen Redensart: Il rumore non fa bene, il bene non fa rumore. Sie tötet so wenig wie möglich, will unter keinen Umständen auch nur irgendwie auffallen, sondern arbeitet lieber mit Abhängigkeiten, die mit einem kleinen, scheinbar belanglosen Gefallen beginnen, der irgendwann einmal eine Gegenleistung einfordert. Deshalb neige ich eher den Thesen eines anderen akademischen Lagers zu: Prof. Gianluigi Ceneri von der Università degli Studi Magna Graecia di Catanzaro hat in mehreren Doppelblindstudien nachgewiesen, dass Angehörige der Mafia an einer dependenten Persönlichkeitsstörung leiden.

      Diese ist gekennzeichnet durch überstarke Trennungsängste, klammerndes Verhalten, geringes Selbstbewusstsein und depressive Grundstimmung. Gegenüber vermeintlich Höherstehenden können sich Abhängigkeitsgestörte nicht durchsetzen, weswegen sie unterwürfig und anhänglich sind. Solche Menschen kopieren meistens den Willen anderer. Ursächlich ist laut Professor Ceneri häufig ein Schock im Kindesalter, in dem sich das Kind einer Situation anpassen musste, der es kognitiv nicht gewachsen war. Oft ist es eine Form anhaltender Demütigung. Solchen Menschen ist es letztlich egal, wer ihr capo ist, solange er Dominanz und Sicherheit garantiert, die durch die Einbindung in eine hierarchische Struktur gewährleistet werden. Eine eigene Meinung hat hier keinen Platz.

      In der Ehrenwerten Gesellschaft löst man Probleme gern innerhalb der Familie, unter Freunden oder Experten, auf jeden Fall aber jenseits der unpersönlichen, viel zu langsam arbeitenden und überdies sachunkundigen Behörden, da es für illegale Probleme keine legalen Lösungen geben kann. Hier bewährt sich das dyadische System. Ein Mafia-Sprichwort sagt: Die Bank der Gefälligkeiten zahlt die höchsten Zinsen. Ihre Mitglieder sind so gnadenlos wie jeder andere Banker auf dem globalen Parkett. Sie achten auf beste Reputation, Manieren und charismatisches Auftreten. Schließlich sind sie international versierte, mehrsprachige Absolventen der besten Universitäten und haben zum Beispiel an der London School of Economics ihren Feinschliff erhalten: Manager, Anwälte, Steuerberater, IT-Spezialisten: I silenziosi. Sie agieren öfter mit Laptop und Smartphone als mit der Pistole, die sie nur noch zum gelegentlichen Herzeigen haben. Sie würden sich niemals mit einer Waffe im Hosenbund erwischen oder gar festnehmen lassen. Außerdem arbeiten sie ausschließlich auf Provisionsbasis, denn einer, der zahlt, ist besser als einer, der tot ist. Sie haben einen langen Atem und sind überall dort zu finden, wo das große stille Geld in seinem geräuschlosen Fluss ist. Sie vermeiden schriftliche Aufzeichnungen. Das Ehrenwort zählt mehr als jeder Vertrag, gemäß der sizilianischen Redensart: „Das Schwein muss man am Schwanz packen, den Mann bei seinem Wort.“

       Aus dem Sammelordner

      Mahl und Trunk gehören zur gelingenden Hinrichtung. Das Geschick des Scharfrichters ist ebenso Bestandteil dieser Dramaturgie wie die letzten Worte des Geistlichen, die dem Delinquenten den Weg in die Ewigkeit erleichtern sollen.

       Der schöne Antonio

      Weil aller Anfang süß ist wie das Lied von den zwei kleinen Italienern, beginnt die Geschichte in den 1950er-Jahren in Bad Thulsern, einem Allgäuer Städtchen, idyllisch eingebettet im magischen Dreieck zwischen Kempten, Lindau und Füssen, und zwar in der dortigen Bäckerei Schaumlöffl. Was erzählt wird, geschah in jenen fernen Tagen, als der Geist Adenauers über das Land wachte und das Böse verlässlich aus dem Osten kam. Das Gute dagegen kam entweder aus Amerika oder aus dem Süden. Man erkannte es an den Liedern. Sie erzählten von einem Frühlingstag im sonnigen Sorrent und von den Caprifischern. Damals war der Zebrastreifen noch nicht obligatorisch, und was ein Mensch zählte, wurde nicht allein von seinem Konto bestimmt. Jedenfalls war seinerzeit die Kirche noch im Dorf, und was bald darauf als Wirtschaftswunder bezeichnet werden sollte, war den meisten Menschen ein ferner Traum am Nachkriegshorizont. Dennoch war allerorts schon so etwas wie die Luft besserer Zeiten zu spüren, denn der Krieg war vorbei, und man fing an, sich wieder etwas zu gönnen. Man entdeckte die kleinen Freuden des Alltags.

      Ungelogen: Sie hieß wirklich Schaumlöffl, Maria Magdalena Schaumlöffl, und sie war das einzige Kind des Zuckerbäckers August Schaumlöffl und seiner Ehefrau Martha. Wer damit angefangen hat, das Fräulein Schaumlöffl mit Madame anzusprechen, ist heute nicht mehr mit hundertprozentiger Sicherheit zu eruieren. Fest steht jedenfalls, dass sich diese Form der Anrede „Madame“ rasch etablierte und, wie übereinstimmend befunden wurde, der Respekt gebietenden Erscheinung der tüchtigen Geschäftsfrau sogar durchaus angemessen war.

      Madame Schaumlöffl, eine glänzend im Strumpf stehende Mittdreißigerin, die wie eine resche Mittzwanzigerin aussah, war durch Schleckereien reich geworden. Sie hatte bei ihrem Vater, einem weithin angesehenen Zuckerbäcker, das Handwerk gründlich gelernt und eines Tages, als der Alte begann, die Zutaten zu verwechseln, das elterliche Geschäft übernommen und zu dem gemacht, was es heute in der Welt der Feinschmecker ist: ein Begriff. Wo immer Madame Schaumlöffl aufkreuzte, tuschelte man nicht nur über ihr fabelhaftes Aussehen, denn sie war so gesund und rotbackig, sondern auch über den Umstand, dass Madame Schaumlöffl nie geheiratet hat, also eigentlich eine Mademoiselle Schaumlöffl war.

      Bis sie eines Tages dem schönen Antonio Sidara begegnete, einem Reisenden in Sachen Damenunterwäsche. Er hatte sich ein