Arthur Conan Doyle

Das Tal des Grauens


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      »Sie scheinen gar nicht überrascht zu sein.«

      »Interessiert, Mr. Mac, aber kaum überrascht. Warum sollte ich auch? Von einer mir als wichtig bekannten Quelle erhalte ich eine anonyme Nachricht mit der Warnung, daß einer bestimmten Person Gefahr droht. Im Verlauf einer Stunde erfahre ich, daß diese Gefahr tatsächlich Gestalt angenommen hat und daß die Person tot ist. Ich bin interessiert; aber, wie Sie bemerken, nicht überrascht.«

      In ein paar kurzen Sätzen erläuterte er dem Inspektor, was es mit dem Brief und der Geheimschrift auf sich hatte. MacDonald saß da, das Kinn auf den Händen, und seine dichten, sandfarbenen Augenbrauen zogen sich zu einem gelben Büschel zusammen.

      »Ich wollte noch heute früh nach Birlstone runter«, sagte er. »Eigentlich bin ich hergekommen, Sie zu fragen, ob Sie mich begleiten möchten – Sie und Ihr Freund hier. Aber nach dem, was Sie sagen, könnten wir hier in London vielleicht mehr erreichen.«

      »Das glaube ich eigentlich nicht«, sagte Holmes.

      »Zum Henker, Mr. Holmes!« rief der Inspektor. »In ein oder zwei Tagen sind die Zeitungen voll mit Berichten über das Rätsel von Birlstone; bloß, was ist daran rätselhaft, wenn es in London einen Mann gibt, der das Verbrechen vorher schon groß ankündigt? Wir brauchen uns doch nur diesen Mann zu greifen, und alles übrige ergibt sich von selbst.«

      »Ohne Zweifel, Mr. Mac. Aber wie haben Sie sich die Ergreifung des sogenannten Porlock vorgestellt?«

      MacDonald drehte den Brief um, den Holmes ihm überreicht hatte.

      »Aufgegeben in Camberwell – das hilft uns nicht viel weiter. Der Name ist nur angenommen, sagen Sie. Wahrhaftig nicht viel für den Anfang. Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten ihm mal Geld geschickt?«

      »Zweimal.«

      »Und wie?«

      »Banknoten, postlagernd Camberwell.«

      »Haben Sie sich nie bemüht zu erfahren, wer sie abgeholt hat?«

      »Nein.«

      Der Inspektor sah überrascht aus und ein wenig empört.

      »Warum nicht?«

      »Weil ich mein Wort zu halten pflege. Nach seinem ersten Brief hatte ich versprochen, ich würde nicht versuchen, ihm nachzuspüren.«

      »Sie glauben, es steht jemand hinter ihm?«

      »Ich weiß es.«

      »Dieser Professor, den Sie mir gegenüber mal erwähnt haben?«

      »Genau.«

      Inspektor MacDonald lächelte, und ein Augenlid zwinkerte, als er mir einen raschen Blick zuwarf.

      »Ich will Ihnen nicht verhehlen, Mr. Holmes, daß wir vom C.I.D.6 glauben, daß Sie sich mit diesem Professor eine klitzekleine Grille in den Kopf gesetzt haben. Ich habe in der Sache persönlich einige Nachforschungen angestellt. Er scheint zu einer ausgesprochen ehrbaren, gelehrten und talentvollen Sorte Mensch zu zählen.«

      »Es freut mich, daß Sie immerhin sein Talent erkannt haben.«

      »Menschenskind, das muß man doch erkennen! Nachdem ich Ihre Meinung über ihn gehört hatte, bin ich von Berufs wegen mal zu ihm gegangen. Wir haben über Sonnenfinsternisse geplaudert. Keine Ahnung, wie wir gerade darauf gekommen sind; aber er hat 'ne Lampe mit Reflektor geholt und einen Globus, und in 'ner Minute hat er mir alles klargemacht. Er hat mir auch ein Buch geliehen; aber das war dann doch ein bißchen zu hoch für mich – trotz meiner guten Aberdeen-Ausbildung; das kann ich ja ruhig zugeben. Er hätte 'n guten Pfaffen abgegeben, mit seinem schmalen Gesicht und dem grauen Haar und der feierlichen Art, wie er spricht. Beim Abschied hat er mir sogar die Hand auf die Schulter gelegt – das war wie Vaters Segen, bevor man in die kalte grausame Welt zieht.«

      Holmes kicherte und rieb sich die Hände.

      »Großartig!« sagte er; »großartig! Sagen Sie, Freund MacDonald; diese erbauliche und rührende Unterhaltung hat, wie ich annehme, im Studierzimmer des Professors stattgefunden?«

      »So ist es.«

      »Ein feines Zimmer, nicht wahr?«

      »Sehr fein – wirklich, Mr. Holmes, sehr hübsch.«

      »Sie saßen vor seinem Schreibtisch?«

      »Ganz recht.«

      »Sie die Sonne im Gesicht und er im Schatten?«

      »Tja, es war Abend; aber ich erinnere mich, daß die Lampe auf mich gerichtet war.«

      »Ganz bestimmt war sie das. Haben Sie über dem Kopf des Professors zufällig ein Bild bemerkt?«

      »Mir entgeht so leicht nichts, Mr. Holmes. Höchstwahrscheinlich habe ich das von Ihnen gelernt. Ja, ich hab das Bild gesehen – eine junge Frau mit dem Kopf auf den Händen, die einen so von der Seite anguckt.«

      »Dieses Gemälde ist von Jean Baptiste Greuze.«

      Der Inspektor bemühte sich, ein interessiertes Gesicht zu machen.

      »Jean Baptiste Greuze7«, fuhr Holmes fort, während er seine Fingerspitzen aneinanderlegte und sich in den Stuhl zurücklehnte, »war ein französischer Maler, dessen Blütezeit zwischen den Jahren 1750 und 1800 lag. Damit beziehe ich mich natürlich auf seine Schaffensperiode. Die moderne Kunstkritik hat die hohe Wertschätzung, die seine Zeitgenossen ihm entgegenbrachten, mehr als bestätigt.«

      Die Augen des Inspektors nahmen einen abwesenden Ausdruck an.

      »Sollten wir nicht lieber ...« sagte er.

      »Wir sind gerade dabei«, unterbrach ihn Holmes. »Alles, was ich sage, hat einen sehr unmittelbaren und wichtigen Bezug zu dem, was Sie das Rätsel von Birlstone genannt haben. In der Tat könnte man es in gewissem Sinne geradezu als sein Zentrum bezeichnen.«

      MacDonald lächelte schwach und sah mich flehend an.

      »Ihre Gedanken bewegen sich ein bißchen zu schnell für mich, Mr. Holmes. Sie lassen ein oder zwei Glieder aus, und ich kriege die Lücke nicht zusammen. Was in aller Welt soll der Zusammenhang sein zwischen diesem toten Herrn Maler und der Sache in Birlstone?«

      »Jeder Wissenszweig ist für den Detektiv von Nutzen«, bemerkte Holmes. »Besonders die triviale Tatsache, daß im Jahre 1865 ein Bild von Greuze mit dem Titel La Jeune Fille à l'Agneau bei der Portalis-Auktion nicht weniger als viertausend Pfund8 erzielt hat, dürfte doch in Ihrem Kopf eine Reihe von Überlegungen in Gang setzen.«

      Das tat sie ganz offensichtlich. Der Inspektor machte ein unverhohlen interessiertes Gesicht.

      »Ich darf Sie daran erinnern«, fuhr Holmes fort, »daß das Gehalt des Professors sich aus mehreren zuverlässigen Nachschlagewerken ermitteln läßt. Es beträgt siebenhundert Pfund im Jahr.«

      »Wie kommt er dann in den Besitz ...«

      »Ganz recht. Wie kommt er dazu?«

      »Tja, das ist bemerkenswert«, sagte der Inspektor gedankenvoll, »Sprechen Sie weiter, Mr. Holmes. Die Sache gefallt mir. Das klingt gut.«

      Holmes lächelte. Aufrichtige Bewunderung ließ ihn immer auftauen – ein Kennzeichen des wahren Künstlers.

      »Und was ist mit Birlstone?« fragte er.

      »Wir haben noch Zeit«, sagte der Inspektor; er warf einen schnellen Blick auf seine Uhr. »Mein Wagen steht vor der Tür, und zur Victoria Station brauchen wir keine zwanzig Minuten. Aber nochmal zu dem Bild – mir war, Mr. Holmes, als ob Sie mir mal erzählt hätten, daß Sie Professor Moriarty noch nie begegnet sind.«

      »Nein, noch nie.«

      »Woher wissen Sie dann über seine Wohnung Bescheid?«

      »Oh, das steht auf einem anderen Blatt. In seiner Wohnung bin ich bereits dreimal gewesen; zweimal habe ich unter verschiedenen Vorwänden auf ihn gewartet und