und noch hartherzigeren arithmetischen Leitfaden hermachte. Maß- und Gewichtstabellen passten sich Melodien an, wie »Rule Britannia« und »Weg mit den Grillen und Sorgen«, und gingen mir durch ein Ohr herein und aus dem anderen wieder hinaus.
Oft konnte ich das Gähnen nicht mehr verbeißen und nickte trotz aller Vorsicht ein. Wie erschreckt fuhr ich dann aus dem heimlichen Schlummer wieder auf. Nur selten versuchte ich schüchterne Bemerkungen und erhielt niemals eine Antwort. Wie sehr kam ich mir wie eine Null vor, die niemand beachtete und die doch jedem im Weg stand, und immer war es mir eine Art Trost, wenn mir Miss Murdstone beim ersten Schlag Neunuhr befahl, zu Bett zu gehen.
So schleppten sich die Ferien hin bis zu dem Morgen, wo Miss Murdstone sagte: »Heute ist der letzte Tag um«, und mir für die Ferien die letzte Tasse Tee gab.
Der Abschied fiel mir nicht schwer. Ich war in einen Zustand von Stumpfheit verfallen, aus dem mir nur die Hoffnung auf Steerforth ein wenig heraushalf, wenn auch Mr. Creakle hinter ihm dräute. Wieder erschien Mr. Barkis an der Gartentür und wieder sprach Miss Murdstones warnende Stimme: »Klara!« als sich meine Mutter über mich beugte, um mir Lebewohl zu sagen.
Ich küsste meine Mutter und mein kleines Brüderchen und war sehr traurig. Nicht so sehr die Umarmung, die inbrünstiger war als sie sein durfte, lebt in meiner Erinnerung fort als das, was jetzt folgte.
Ich saß schon im Wagen, als meine Mutter mich noch einmal rief. Ich sah hinaus, und sie stand in der Gartentür allein und hielt den Säugling empor, um ihn mir zu zeigen. Die Luft war kalt und still und kein Haar auf ihrem Haupte, keine Falte ihres Kleides regte sich, als sie mich beredt ansah und ihr Kind in die Höhe hielt.
So verlor ich sie. So sah ich sie später in meinen Träumen in der Schule – eine stumme Gestalt vor meinem Bett, immer mit demselben beredten Gesicht und dem Säugling in den Armen.
9. Kapitel – Ein denkwürdiger Geburtstag
Ich übergehe alles, was sich in der Schule abspielte bis zu meinem Geburtstag im März. Außer dass Steerforth noch bewunderungswürdiger war als je, ist mir nichts im Gedächtnis geblieben. Er sollte am Ende des Semesters austreten und kam mir lebhafter und selbstständiger vor als je, und daher noch gewinnender. Sonst weiß ich nichts mehr. Das große Ereignis, das diese Zeit für mich auszeichnet, scheint alle kleinen Erinnerungen verschlungen zu haben und allein übriggeblieben zu sein. Wie klar ich mich an den Tag erinnere! Ich rieche den Nebel, der das Haus umdunkelt, sehe die Gegenstände draußen wie gespenstige Schatten hindurchschimmern, ich fühle mein bereiftes Haar sich kalt und feucht an meine Wange kleben, ich blicke in die dämmerhafte Perspektive der Schulstube hinab, wo hie und da ein flackerndes Licht das trübe Zwielicht erleuchtet und der Atem der Schüler sich dampfend in die kalte Luft erhebt, wenn sie sich auf die Finger blasen, mit den Füßen auf dem Flur stampfend.
Wir waren nach dem Frühstück eben vom Spielplatz hereingekommen, als Mr. Sharp eintrat und sagte:
»David Copperfield soll zum Direktor kommen.«
Ich erwartete ein Geburtstagsgeschenk von Peggotty, und mein Gesicht heiterte sich auf.
Einige Jungen um mich herum mahnten mich, ihrer bei der Verteilung der guten Dinge nicht zu vergessen, als ich sehr vergnügt von meinem Platze aufsprang.
»Eil dich nicht, David«, sagte Mr. Sharp. »Du hast Zeit genug, mein Kind. Eil dich nicht.«
Der warme Ton, mit dem er sprach, hätte mir auffallen müssen, aber ich achtete nicht darauf.
Ich eilte in das Wohnzimmer und sah dort Mr. Creakle beim Frühstück sitzen, Rohrstock und eine Zeitung neben sich. Er hielt einen offnen Brief in der Hand. Ein Geburtstagskorb war nicht da.
»David Copperfield«, sagte Mrs. Creakle und führte mich zum Sofa und setzte sich neben mich. »Ich habe etwas Besonderes mit dir zu reden. Ich habe dir etwas mitzuteilen, mein Kind.«
Mr. Creakle, zu dem ich natürlich hinschielte, schüttelte nur den Kopf, ohne mich anzusehen, und verschluckte einen Seufzer mit einem großen Stück Butterbrot.
»Du bist noch zu jung, um zu wissen, wie die Welt sich mit jedem Tag verändert«, sagte Mrs. Creakle, »und wie die Menschen dahingehen, aber wir alle müssen daran glauben, David, manche von uns in der Jugend, manche im Alter. Manche haben es das ganze Leben vor Augen.«
Ich sah sie mit Spannung an.
»Befanden sich alle wohl, als du nach den Ferien von zu Hause wegreistest?« fragte Mrs. Creakle nach einer Pause. »War deine Mama wohl?«
Ich zitterte, ohne recht zu wissen warum, sah sie immer noch mit großem Ernst an, konnte aber nicht antworten. Sie fuhr fort:
»Weil ich dir zu meinem größten Kummer sagen muss, dass deine Mutter sehr krank ist, wie ich heute Morgen erfuhr.«
Ein Nebel bildete sich zwischen Mrs. Creakle und mir, und ihre Gestalt schien einen Augenblick zu schwanken. Dann stürzten mir die brennenden Tränen aus den Augen und ich sah sie wieder deutlich neben mir sitzen.
»Sie ist sehr gefährlich krank.«
Jetzt wusste ich alles.
»Sie ist gestorben.«
Sie hätte es nicht auszusprechen brauchen. Ich hatte bereits einen verzweifelten Schmerzensschrei ausgestoßen und begriff, dass ich eine Waise war in der weiten Welt.
Mrs. Creakle benahm sich sehr gütig zu mir.
Sie behielt mich den ganzen Tag bei sich im Zimmer und ließ mich nur manchmal allein. Und ich weinte, bis ich vor Erschöpfung einschlief, und wachte auf und jammerte wieder. Als ich nicht mehr weinen konnte, fing ich an zu grübeln. Da wurde mir die Brust noch enger und mein Gram schwoll zu einem dumpfen Schmerz an, für den es keine Linderung gab.
Und doch flatterten meine Gedanken herum und blieben nicht fest an dem Unglück haften, das mich niederdrückte. Ich dachte an unser Haus, wie es nun verschlossen und öde wäre. Ich dachte an das kleine Kindchen, das, wie Mrs. Creakle sagte, seit einiger Zeit hinsiechte und, wie man fürchte, wohl auch sterben würde. Ich dachte an meines Vaters Grab auf dem Kirchhof neben unserm Hause, und dass meine Mutter jetzt auch bald unter dem mir so bekannten Baume ruhen werde. Ich stellte mich auf den Stuhl, als man mich allein gelassen, und blickte in den Spiegel, um zu sehen, wie rot meine Augen und bekümmert meine Züge seien. Ich fragte mich nach einigen Stunden, ob meine Tränen wirklich versiegt wären, wie es der Fall zu sein schien. Das schmerzte mich außer meinem Verlust am meisten, wenn ich an das Nachhausegehen dachte; – sollte ich doch dem Leichenbegräbnis beiwohnen.
Dann hatte ich die Empfindung, als ob mich etwas