Den ganzen damaligen Abend jedoch und, mit einer kurzen Ruhepause, die ganze damalige Nacht und den ganzen nächsten Morgen verschlang ich Wissen und prägte dem Gedächtnis Namen ein. Da erfuhr ich von den Kennzeichen der großen Dekorationskünstler, vom Geheimnis zyklischer Daten, von den Stempeln der Hung-wu-und den Schönheiten der Yung-lo-Zeit13, von den Schriften des Tang-ying und den Herrlichkeiten der primitiven Periode der Sung- und Yüan-Dynastien14. Ich war angefüllt mit all diesen Kenntnissen, als ich Holmes am nächsten Abend besuchte. Inzwischen lag er nicht mehr zu Bett – wenn auch die öffentliche Berichterstattung dies nicht vermuten ließ – und saß, den dick bandagierten Kopf auf die Hand gestützt, in der Kuhle seines Lieblingssessels.
»Nanu, Holmes«, sagte ich, »wenn man den Zeitungen Glauben schenkt, dann liegen Sie gerade im Sterben.«
»Das«, sagte er, »ist genau der Eindruck, den ich vermitteln wollte. Nun denn, Watson, haben Sie Ihre Lektionen gelernt?«
»Ich habe es zumindest versucht.«
»Gut. Sie könnten ein intelligentes Gespräch über das Thema in Gang halten?«
»Ich glaube schon.«
»Dann reichen Sie mir diese kleine Schachtel vom Kamin.«
Er öffnete den Deckel und entnahm einen kleinen Gegenstand, der überaus sorgfältig in feinen orientalischen Seidenstoff gewickelt war. Diesen faltete er auseinander und enthüllte eine zarte kleine Schale von schönster dunkelblauer Farbe.
»Sie bedarf sorgfältiger Behandlung, Watson. Das ist echtes Eierschalenporzellan15 der Ming-Dynastie16. Ein feineres Stück wanderte niemals über Christies Auktionstisch. Ein komplettes Service hiervon wäre ungeheuer wertvoll – tatsächlich ist es zweifelhaft, ob es außerhalb des Kaiserpalastes von Peking ein komplettes Service gibt. Der Anblick dieses Stückes würde einen echten Kenner rasend machen.«
»Und was soll ich damit tun?«
Holmes reichte mir eine Karte mit folgendem Aufdruck: Dr. Hill Barton, 369 Half Moon Street.
»Das ist Ihr Name für heute abend, Watson. Sie werden Baron Gruner einen Besuch abstatten. Ich kenne mich ein wenig in seinen Gewohnheiten aus; um halb neun dürfte er vermutlich frei sein. Vorher wird ihm ein Billett ankündigen, daß Sie die Absicht haben, vorzusprechen; und Sie werden dann verkünden, daß Sie ihm ein Muster eines vollkommen einzigartigen Services aus dem China der Ming-Zeit mitgebracht haben. Sie dürfen durchaus ein Arzt sein, da das eine Rolle ist, die Sie ohne Doppelzüngigkeit spielen können. Sie sind Sammler, dieses Service ist Ihnen untergekommen, Sie haben von des Barons Interesse für das Gebiet gehört, und Sie sind nicht abgeneigt, zu einem angemessenen Preis zu verkaufen.«
»Wie angemessen?«
»Gut gefragt, Watson. Sie würden freilich schlimm auf die Nase fallen, wenn Sie über den Wert Ihrer eigenen Ware nicht Bescheid wüßten. Diese Schale hat mir Sir James besorgt; sie stammt, soviel ich weiß, aus der Sammlung seines Klienten. Sie werden nicht übertreiben, wenn Sie andeuten, daß es Ebenbürtiges auf der Welt kaum geben dürfte.«
»Vielleicht könnte ich vorschlagen, das Service von einem Experten schätzen zu lassen.«
»Ausgezeichnet, Watson! Sie sprühen heute vor Geist. Schlagen Sie Christie oder Sotheby17 vor. Ihre Feinfühligkeit läßt es nicht zu, einen Preis selbst zu bestimmen.«
»Aber wenn er mich nicht empfangen will?«
»O doch, er wird Sie empfangen. Er leidet an Sammelwut in ihrer ausgeprägtesten Form – und besonders was dieses Gebiet betrifft, auf dem er eine anerkannte Autorität ist. Setzen Sie sich, Watson, dann diktiere ich Ihnen den Brief. Antwort ist nicht erforderlich. Sie teilen lediglich mit, daß Sie kommen, und weshalb.«
Es war ein bewundernswertes Dokument, kurz, höflich und die Neugier des Kenners entfachend. Ein Bote wurde rechtzeitig damit entsandt. Am selben Abend brach ich mit der kostbaren Schale in der Hand und der Karte von Dr. Hill Barton in der Tasche zu meinem Abenteuer auf. Das schöne Haus und Grundstück wies daraufhin, daß Baron Gruner, wie Sir James gesagt hatte, ein Mann von beträchtlichem Reichtum war. Eine lange, gewundene Auffahrt, mit Banketten seltener Sträucher zu beiden Seiten, mündete in einen großen, kiesbestreuten Platz, der mit Statuen geschmückt war. Das Anwesen war von einem südafrikanischen Goldkönig in den Tagen des großen Booms erbaut worden, und das langgestreckte, niedrige Haus mit den Ecktürmchen – obschon ein architektonischer Albtraum – imponierte durch seine Größe und Solidität. Ein Butler, der sich als Kirchenvertreter im House of Lords sehr gut ausgenommen hätte, ließ mich eintreten und überantwortete mich einem in Plüsch gekleideten Lakaien, der mich ins Empfangszimmer des Barons geleitete.
Er stand gerade vor einer großen geöffneten Vitrine, die sich zwischen den Fenstern befand und einen Teil seiner chinesischen Sammlung enthielt. Bei meinem Eintreten drehte er sich um und hielt eine kleine braune Vase in der Hand.
»Bitte nehmen Sie doch Platz, Doktor«, sagte er. »Ich habe eben meine eigenen Schätze betrachtet und mich gefragt, ob ich es mir wirklich leisten könnte, sie zu vermehren. Dieses kleine T'ang-Exemplar18 aus dem siebten Jahrhundert dürfte Sie vermutlich interessieren. Ich bin sicher, feinere Handarbeit oder eine reichere Glasur haben Sie noch nie gesehen. Haben Sie die erwähnte Ming-Schale bei sich?«
Ich packte sie sorgfältig aus und reichte sie ihm. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, zog, da es bereits dunkelte, die Lampe herüber und schickte sich an, die Schale zu untersuchen. Dabei fiel das gelbe Licht auch auf sein Äußeres, und ich konnte es in aller Ruhe studieren.
Er war ohne Zweifel ein bemerkenswert gut aussehender Mann. Der europäische Ruf seiner Schönheit war vollauf gerechtfertigt. Er war zwar nicht mehr als mittelgroß, jedoch von anmutiger und kräftiger Statur. Sein Gesicht war olivenfarbig, fast orientalisch, mit großen, dunklen, verträumten Augen, die auf Frauen zweifellos eine unwiderstehliche Faszination ausüben konnten. Sein Haar und der Schnurrbart waren rabenschwarz; letzteren trug er kurz, gezwirbelt und sorgfältig gewichst. Seine Züge waren regelmäßig und angenehm, mit Ausnahme des geraden, dünnlippigen Mundes. Wenn ich jemals den Mund eines Mörders gesehen habe, dann hier – eine grausame, harte Scharte im Gesicht, zusammengepreßt, unerbittlich und schrecklich. Er war schlecht beraten, den Schnurrbart so zurechtzustutzen, denn sein entblößter Mund war ein Gefahrensignal der Natur zur Warnung seiner Opfer. Seine Stimme war einnehmend, seine Manieren vollendet. Sein Alter hätte ich auf etwas über dreißig geschätzt, wiewohl später aus seinen Unterlagen hervorging, daß er zweiundvierzig war.
»Sehr fein – sehr fein, in der Tat!« sagte er schließlich. »Und Sie sagen, Sie haben ein dazu passendes sechsteiliges Service. Mich wundert nur, daß ich von so herrlichen Stücken noch nichts gehört haben soll. Ich weiß nur von einem einzigen Stück in England, das zu diesem hier paßt, und das steht aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zum Verkauf. Wäre es indiskret, wenn ich Sie fragte, Dr. Hill Barton, wie Sie in seinen Besitz gekommen sind?«
»Spielt das wirklich eine Rolle?« fragte ich mit der sorglosesten Miene, die ich zustande brachte. »Sie sehen ja selbst, daß das Stück echt ist, und was den Preis betrifft, so begnüge ich mich mit der Wertbestimmung durch einen Experten.«
»Sehr mysteriös«, sagte er mit einem raschen, argwöhnischen Aufblitzen seiner dunklen Augen. »Wenn man es mit Objekten von solchem Wert zu tun hat, möchte man natürlich alles über den Handel wissen. Daß das Stück echt ist, ist unbestreitbar. Daran hege ich überhaupt keinen Zweifel. Aber angenommen – ich muß jede Möglichkeit in Betracht ziehen –, es stellt sich hinterher heraus, daß Sie gar kein Recht hatten, es zu verkaufen?«
»Ich würde Ihnen Sicherheiten gegen jeden Rechtsanspruch dieser Art bieten.«
»Das würde freilich die Frage aufwerfen, was Ihre Sicherheiten wert sind.«
»Darüber könnte meine Bank Auskunft erteilen.«
»Nun schön. Dennoch kommt mir der ganze Handel ziemlich ungewöhnlich vor.«
»Es steht Ihnen frei, das Geschäft zu machen oder nicht«, sagte ich