DIGITALE BILDKULTUREN
Durch die Digitalisierung haben Bilder einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren. Dass sie sich einfacher und variabler denn je herstellen und so schnell wie nie verbreiten und teilen lassen, führt nicht nur zur vielbeschworenen »Bilderflut«, sondern verleiht Bildern auch zusätzliche Funktionen. Erstmals können sich Menschen mit Bildern genauso selbstverständlich austauschen wie mit gesprochener oder geschriebener Sprache. Der schon vor Jahren proklamierte »Iconic Turn« ist Realität geworden.
Die Reihe DIGITALE BILDKULTUREN widmet sich den wichtigsten neuen Formen und Verwendungsweisen von Bildern und ordnet sie kulturgeschichtlich ein. Selfies, Meme, Fake-Bilder oder Bildproteste haben Vorläufer in der analogen Welt. Doch konnten sie nur aus der Logik und Infrastruktur der digitalen Medien heraus entstehen. Nun geht es darum, Kriterien für den Umgang mit diesen Bildphänomenen zu finden und ästhetische, kulturelle sowie soziopolitische Zusammenhänge herzustellen.
Die Bände der Reihe werden ergänzt durch die Website www.digitale-bildkulturen.de. Dort wird weiterführendes und jeweils aktualisiertes Material zu den einzelnen Bildphänomenen gesammelt und ein Glossar zu den Schlüsselbegriffen der DIGITALEN BILDKULTUREN bereitgestellt.
Herausgegeben von
Annekathrin Kohout und Wolfgang Ullrich
Referenz aus dem Film Herr der Ringe – übertragen auf das Thema dieses Buchs
1 | Schauen Sie bitte hier, es wird wichtig!
Eigentlich müsste dieses Buch mit einer beeindruckend hohen Zahl beginnen. Eine, die in beeindruckend kurzer Zeit erreicht wurde und deren Zustandekommen auch nach einer Weile noch beeindruckend ratlos macht. Man kann sie auch mit Abstand nicht wirklich fassen, geschweige denn erklären.
Beeindruckend viele Texte über Internet-Meme1 setzen mit solchen Zahlen ein, die aus abstrakten Klicks, Aufrufen oder Views genannten Ansichten ein konkretes Gefühl von Masse erzeugen wollen. Dieses Prinzip wird uns im Verlauf noch häufiger begegnen. Als aufmerksamkeitsangelnde Eröffnung von Meme-Texten wollen die Zahlen vor allem eines: Masse in Dringlichkeit übersetzen. Wenn derart viele Menschen sich für das Thema begeistern, sollten Sie als Leserin und Leser, die noch nichts vom Gegenstand und der Entstehung dieses Massenmagnets gehört haben, das doch gefälligst auch tun. »Also«, rufen Texte, die so beginnen, »auf geht’s, es wird wichtig! Ich will Ihnen etwas erklären, von dem Sie bis eben noch nie gehört hatten, das aber offenbar echt jede Menge Menschen beschäftigt.«
Diese Aufmerksamkeitsangel wird Ihnen vielleicht schon aufgefallen sein, wenn Sie sich für Meme interessieren. Und weil dieses Buch nicht einfach nur lustigen Quatsch aus dem Internet zusammenfassen will (keine Sorge, der kommt natürlich auch vor), sondern sich für die Muster dahinter interessiert, erlaube ich mir diesen Meta-Einstieg ins Thema. Die Muster, die an Internet-Memen interessant sind, weisen indes über die Dringlichkeit heischenden Faktoren Aktualität und Masse hinaus (»Jetzt gerade interessieren sich so viele Menschen für dieses Thema«). Anhand dieser Muster lässt sich das jeweilige Meme im Sinne eines Phänomens verstehen, das als konkrete Erscheinung ein übergeordnetes Thema erkennbar macht.2 Wer so auf die digitale Kultur im Internet schaut, entdeckt deutlich mehr Gründe als Masse und Aktualität, um sich mit Internet-Memen zu befassen. Es ist die vielleicht vitalste und demokratischste Form der Kultur, die wir derzeit erleben. Sie zeigt die Chancen des digitalen Wandels, aber auch Abgründe, die sich öffnen, wenn Regeln und Konventionen im Entstehen sind. Kurzum: Die Meme-Kultur des Internets ist von entscheidender Bedeutung für unser Verständnis von Gegenwartskultur, sodass ich Felix Stalder folge, der in seinem Buch Kultur der Digitalität gar von einer »digitalen Volkskultur des Remix und Mashups« schreibt, die »von unzähligen Personen mit sehr unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichem Anspruch betrieben« werde: »Die Gemeinsamkeit mit der traditionellen Volkskultur, im Gesangsverein oder anderswo, liegt darin, dass Produktion und Rezeption, aber auch Reproduktion und Kreation weitgehend zusammenfallen.«3 Auf diese Weise prägt die grenzenlose Volkskultur der Meme auch die nicht-digitale Welt, was die Autorin Limor Shifman zu der Folgerung veranlasst, »dass wir in einer Zeit leben, die von einer hypermemetischen Logik befeuert wird.«4 Und diese hypermemetische Logik entfaltet ihre Wirkung mittlerweile auch außerhalb dessen, was man vor gar nicht so langer Zeit mal als »Online« definierte. Dass diese Unterscheidung zwischen digitaler und nicht-digitaler Welt ohnehin zunehmend schwierig bis unmöglich wird, ist ein weiterer Grund, sich mit der Kultur der Internet-Meme zu befassen. Spätestens seit der Selbstverständlichwerdung des Digitalen im Zuge der Corona-Krise sind digitale und nicht-digitale Welt so sehr zusammengewachsen, dass man feststellen kann: Internet-Meme prägen Bildkulturen auf eine Weise, die neben dem Vergleich mit der Volkskultur aus dem Gesangsverein auch jenen mit der Wirkmacht der Popkultur aus Hollywood angemessen erscheinen lässt. Im Folgenden werde ich deshalb unterschiedliche Bild- und Textformen als Internet-Meme zusammenfassen. Die Definition ist nicht immer trennscharf, sie basiert aber auf der Annahme, dass jede digitale Ausdrucksform, die kopier- und referenzierbar ist, als Meme angesehen werden kann.
All das zusammengenommen scheint mir mehr zu sein als eine hohe Zahl, die Eindruck schinden möchte. Ich habe auf den folgenden Seiten acht Beobachtungen rund um Meme notiert, die von acht konkreten Internet-Memen begleitet werden. Die Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit5 (das wäre angesichts der sich permanent verändernden Meme-Kultur ohnehin kaum möglich) und ist von einem hohen Maß an Subjektivität geprägt. Gleichwohl bemühe ich mich, mit den ausgewählten Beispielen möglichst viele Facetten dessen abzubilden, was unsere Vorstellung von Internet-Memen bisher geprägt hat: Historische Bedeutung, Formatvielfalt, der sprachliche Interaktions-Raum haben mich dabei ebenso geleitet wie die große Sympathie, mit der ich das Themenfeld seit Jahren beobachte. Meme sind Bestandteil gegenwärtiger Popkultur und bilden als solche einen Reflexionsrahmen, um aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen besser einzuordnen. Dass sie dabei auch auf eine erstaunliche Schlagfertigkeit und einen besonderen Humor setzen, macht die Beschäftigung nicht nur erkenntnis-, sondern auch erlebnisreich. Davon möchte ich erzählen.
Dafür greife ich auf ein Erzählmuster mit einer meme- artigen Methode zurück, das nicht im oder durch das Internet erfunden wurde, aber durch die digitale Verbreitung enorm populär geworden ist: der als Liste strukturierte Artikel, im Englischen mit dem Kofferwort »listicle« beschrieben. Solche Listicles haben sich im Ökosystem der digitalen Kommunikation (vereinfacht häufig als »Soziale Medien« zusammengefasst) als besonders aufmerksamkeitsstark erwiesen, das heißt, es gelingt ihnen offenbar auffallend gut, das Interesse des Publikums zu gewinnen und dieses zu animieren, derartige Auflistungen wiederum mit ihrem digitalen sozialen Umfeld zu teilen. Das hat dazu geführt, dass Listicles immer häufiger eingesetzt wurden und sich dann von ihrem ursprünglichen Zweck entfernten (dieses Prinzip der Popularisierung und Umdeutung von Memen wird im Folgenden noch häufiger auftauchen). Was Übersichtlichkeit und schnellen Informationszugang versprach, wurde als Aufmerksamkeitsköder genutzt, um Lesende auf Themen zu bringen, die sie vielleicht gar nicht interessieren. Dieses Prinzip, »Clickbait« genannt, zeigt sich zum Beispiel an Anreißertexten (Teasern) wie: »Acht Sätze über Internet-Meme – bei Punkt vier musste ich weinen« oder »Das sind die acht wichtigsten Memes – Platz zwei wirst du nie erraten«. Auf diese Weise soll ein Click geködert werden, weil das Publikum erfahren will, was denn dieser ominöse Punkt vier oder Platz zwei sein mag. Dieses Prinzip funktioniert übrigens auch, wenn dem erzählenden (und weinenden) »Ich« des Teasers kein Autor-Ich im Text zuzuordnen ist.
Allerdings hat die Listicle-inspirierte Struktur dieses Buches auch ihre Grenzen, weil sie zwar konkrete Memes zeigen will, dabei aber aufgrund der verfestigten Struktur des (gedruckten) Textes nie über die Perspektive der Beobachtenden hinauskommen kann. Als Lesende bleiben wir also auf der Ebene der Zuschauenden, die in voller Kleidung am Beckenrand spazieren, ohne ins Wasser zu springen. Dieses Bild, das den Unterschied zwischen Teilnahme (Schwimmen) und Beobachtung (vom Beckenrand aus) nutzt, lehnt sich an einen Ratschlag an, den die Journalistin Liz Heron