Bildnachweis
Abb. 1: © Courtesy Galerie EIGEN + ART, Leipzig/Berlin, und Zwirner, New York/London, VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Abb. 2: © Estate of Jörg Immendorff, Courtesy Galerie Michael Werner, Märkisch-Wilmersdorf/Köln/New York
Abb. 3: © Estate of George Grosz, Princeton, N.J. / VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Abb. 4: Victor Lenepveu: Musée des Horreurs, 1899
Abb. 5: © VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Abb. 6: © AEDT.de/Krempl
E-Book-Ausgabe 2020
© 2020 Verlag Klaus Wagenbach
Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung: Julie August.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
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ISBN: 978 3 8031 4290 0
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3701 2
Vorbemerkung
Es gab gute Gründe, dieses Buch nicht zu schreiben. Warum sollte gerade ich mich mit einem Gemälde auseinandersetzen, das Neo Rauch im Juni 2019 in polemischer Reaktion auf einen von mir verfassten Zeitungsartikel gemalt hat? Gewiss könnte man mir fragwürdige Motive, ein unerlöstes Gemüt oder auch taktisches Ungeschick unterstellen, zumal der Titel des Gemäldes – Der Anbräuner – direkt auf mich zielt. Manche dürften das Buch als das Bellen eines getroffenen Hundes oder als nächste Etappe in einem öden Kreislauf der Rache deuten, andere ein Zuviel an Eitelkeit darin erkennen: Muss einer in Buchform auswalzen, dass er in den Kosmos von Neo Rauch Eingang gefunden hat? Auf der anderen Seite ist von denjenigen, die das Gemälde für missglückt – für einen Ausrutscher – halten, der Einwand zu erwarten, dass ich es zu ernst nehme, wenn ich ihm so viel Aufmerksamkeit widme. Ferner könnte man mir vorhalten, dadurch doch nur seinen Marktwert zu steigern; profitieren würde davon allein sein Besitzer (dem das Bild im Juli 2019 immerhin eine Dreiviertelmillion wert war). Sollte man den Streit also nicht auf sich beruhen lassen? Wird mein Name sonst nicht viel zu eng an den von Rauch gebunden? Wird dadurch nicht von den anderen Themen und Anliegen abgelenkt, die ich als Autor verfolge?
Aus all diesen Gründen wäre das Buch tatsächlich fast nicht geschrieben worden. Im Sommer 2019, als die Idee dazu erstmals an mich herangetragen wurde, entschied ich mich dagegen. Zum Jahreswechsel 2019/20 las ich dann noch einmal vieles nach, was im Zuge der Auseinandersetzung mit Rauchs Bild geäußert worden war – nicht nur öffentlich, sondern auch in zahlreichen privaten Mailwechseln mit ganz unterschiedlichen Personen. Angesichts der Thesen, die in diesen Mails verhandelt wurden, begriff ich nun viel deutlicher, wie sehr Rauchs Bild Ausdruck und Folge etlicher Konflikte ist, die aktuelle Diskussionen in der Kunstwelt, vor allem aber im politischen Raum prägen.
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner prophezeite im Juli 2019, Der Anbräuner »werde einst in Schulbüchern abgebildet sein«; es handle sich bei dem Gemälde »um Zeitgeschichte«, es »sei eine Analogie auf die Debattenkultur der 2010er und 2020er Jahre«.1 Abgesehen davon, dass sich über die 2020er Jahre noch nicht viel sagen lässt und dass Lindner wohl »Allegorie« statt »Analogie« meinte, würde ich ihm recht geben. Und wäre eine solche Einschätzung von Rauchs Gemälde nicht Grund genug, es doch zum Ausgangspunkt eines Buchs zu machen?
Noch während ich mich mit einem entsprechenden Plan anzufreunden begann, kamen jedoch neue Bedenken auf. Sie waren sogar schwerwiegender als die ersten. Denn wie mir die Relektüre der Mails deutlich machte, ist Rauchs Gemälde vor allem anderen die Erwiderung eines ostdeutschen Künstlers auf einen westdeutschen Kritiker. In dem Bild werden die seit einigen Jahren wieder verstärkt wahrnehmbaren Abgrenzungen und Aggressionen zwischen Ost und West drastisch zum Thema. Wird Der Anbräuner aber als identitätspolitisches Statement gedeutet, steht meine Eignung als Autor eines Buchs, das sich damit befasst, umso mehr infrage. So liegt der Verdacht nahe, dass ich als Westdeutscher grundsätzlich nicht nachvollziehen kann, was einen Ostdeutschen beschäftigt und verletzt oder inwiefern sein Handeln seinen spezifischen Erfahrungen geschuldet ist.
Doch damit nicht genug. Als Westdeutscher bin ich gegenüber Ostdeutschen zudem Vertreter einer privilegierten Mehrheit oder gelte sogar als jemand, der einer Gesellschaftsordnung angehört, die eine andere Gesellschaftsordnung verdrängt oder kolonisiert hat. Und wie es immer wieder strittig ist, ob Weißen das Recht zusteht, sich in die Deutung der Erfahrungen von Schwarzen einzumischen, oder wie es Homo- oder Transsexuelle als übergriffig, als eine Form von Aggression empfinden, wenn Heterosexuelle sie analysieren, so könnte auch ich einen Fehler begehen, wenn ich mir anmaße, Rauchs Gemälde zu interpretieren.
Aber sind derartige Vergleiche richtig? Sind die Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland wirklich so groß, dass ein Gemälde eines ostdeutsch sozialisierten Künstlers aus dem Jahr 2019 – dreißig Jahre nach Ende der DDR – kein Gegenstand für einen westdeutsch sozialisierten Kritiker sein kann oder sein darf? Und würde, wer einen solchen Schluss zöge, nicht sogar dazu beitragen, den Graben zwischen Osten und Westen weiter zu vertiefen? Wäre es also nicht im Gegenteil ein wichtiges Zeichen, als Westdeutscher über Rauchs Gemälde zu schreiben? Das aber setzt nicht nur voraus, dass man Erfahrungsunterschiede eigens reflektiert, sondern ist auch nur dann sinnvoll, wenn man das Bild als das nimmt, was ein Bild immer sein kann, egal mit welcher Intention es entstanden ist: ein Ort, der Freiraum für unterschiedlichste Gedanken und Deutungen lässt.
Bekanntlich gab es Zeiten, in denen Bilder genau deshalb sogar in den Dienst der Diplomatie gestellt wurden. Man sah sie als ideales Medium an, damit verschiedene Parteien, ausgehend von einer Ikonografie oder einzelnen Sujets, jeweils ihre Vorstellungen artikulieren und im Weiteren ihre Standpunkte formulieren konnten. Indem man darauf achtete, auf welche Sujets sich eine Partei bezog oder wie stark eine andere ein bestimmtes Motiv mit Bedeutung belastete, konnte man ihre unterschiedlichen Interessen vielleicht besser verstehen und eventuell sogar ausloten, ob und wie eine Annäherung möglich wäre. Der Kunsthistoriker Ulrich Heinen, der das Verhältnis von Kunst und Diplomatie für das 17. Jahrhundert und am Beispiel von Peter Paul Rubens näher erforscht hat, zeigte auf, wie Gemälde »gerade in angespannten Verhandlungen« zu einem bildhafteren Sprechen anregen, Metaphern und Vergleiche stimulieren und so »den Gesprächsfluss sowie das wirkungsvolle Vorbringen eigener Interessen erleichter[n]«.2
Nun geht es hier um keine angespannten Verhandlungen, aber wenn Rauchs Gemälde innerhalb einer Konfliktlage entstanden ist, eignet es sich vielleicht besser als vieles andere dazu, eben diese zu erhellen. Wer über das Bild spricht, bezieht immerhin jeweils Position innerhalb des Konflikts, formuliert aber unwillkürlich im spielerischen Modus des Als-ob, weiß um die grundsätzliche Mehrdeutigkeit von Bildern, ist daher vielleicht auch neugierig auf andere Deutungen und modifiziert eventuell sogar die eigene Sichtweise immer wieder. Bildexegesen führen so bestenfalls zu einer Reflexion sonst ziemlich verhärteter Standpunkte.
Allerdings – so lässt sich einwenden – ist Rauchs Gemälde selbst parteiisch – und nicht gemalt worden, um Konflikte aufzulösen. Vielmehr sollte mit ihm eine andere Eigenschaft genutzt werden, die man Bildern zuspricht. So vermögen sie Evidenz zu schaffen und etwas bisher Diffuses so anschaulich zu machen, dass es überhaupt erst fassbar wird und sich darauf reagieren lässt. Dann kann es durch sie gelingen, wie der Kunsthistoriker Horst Bredekamp dargestellt hat, »auf kaum kontrollierbare Weise von der Möglichkeits- in die Aktionsform umzuspringen«.3 Manche Bilder etwa führen Utopien klar vor Augen und motivieren so zu einem bestimmten Handeln, andere verleihen Idealen sichtbaren Ausdruck und verschaffen ihnen damit