Francois Jullien

Ein zweites Leben


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1. Januar an eine ganz neue Freundschaft aufbauen werden“, „so beständig, dass sie durch nichts zu zerstören ist …“. Ich kann glauben, wie in einem Glaubensakt, bei Null anzusetzen und alles neu zu beginnen: „Gilberte noch einmal neu kennenzulernen, so wie im Moment der Schöpfung“, also so, „als ob noch keine Vergangenheit existierte“. Gleichwohl bleibt das alte und quälende Begehren bestehen – das Begehren, sie zu lieben, oder bessergesagt das Begehren, dass sie mich liebe – ein starrköpfiges und dauerhaftes Begehren. Von ihm ausgehend, von diesem Sockel, der mich zum Lehnsmann der Vergangenheit macht, projektiere ich in utopischer Weise einen Einschnitt. Wenn man also, fährt Proust fort, „wie man die blinden Gesetze der Natur mit einer Religion überlagert“, versuchen will, „dem Neujahrstag die bestimmte Vorstellung aufzuprägen, die ich mir von ihm gemacht hatte“, bleibt das doch vergebens. In diesen Dämmerstunden des ersten Tages hatte ich, unterwegs auf der Straße, „die ewiggleiche, gewöhnliche Materie, die wohlbekannte Feuchtigkeit, die ahnungslose Fluidität der alten Tagen wiedererkannt“. Ein Ich-Subjekt, wie stark auch sein Wunsch sein mag, Neues in sein Leben einzuschreiben, und sogar wenn es sich auf seine Initiative versteift, kann weder die es umgebende, prägnante, stagnierende Verhüllung der Welt noch ihren „isotopischen“ Gehalt („Feuchtigkeit“, sagt Proust) durchbrechen. Das Leben, und zwar vor allem in mir selbst, bleibt nur allzu sehr sich selbst verhaftet.

      Man kann also das Spiel nicht neu beginnen: zu glauben, ein „neues Leben“ anzuschneiden, die Szene von einem (ersten) Anfang weg neu zu spielen – „dé-but“: der Würfel () fällt zum ersten Mal. Hat es aber tatsächlich einen ersten Anfang gegeben? Wenn sich die Frage stellt: Inwieweit kann man im Leben eine Initiative wiederfinden, indem man es von dem loslöst, was es gewesen ist? – dann verlangt dieses Fragen, selbst ins Vorher verschoben zu werden. Haben wir, wenn dieses „Wiederfinden der Initiative“ an sich problematisch ist, überhaupt je eine erste Initiative gekannt? Denn wenn es auch so etwas wie einen Anfang (ein initium) gegeben haben muss, wie viel „Initiative“ des Subjekts hat dieser zugelassen? Nicht nur stand ein solches „Subjekt“ bei diesem ersten Mal unter Einfluss (des Milieus, der Sprache, der Erziehung usw.: alles dessen, wovon sich Descartes’ cogito befreien will), vielmehr waren wir, als wir, wie man sagt, „ins Leben traten“, recht unfähig zu wählen, wie wir leben wollten, und machten kaum die Erfahrung eines ersten Beginnens. Wenngleich wir dabei durchaus etwas treffen mussten, was sich in Form von „Entscheidungen“ (über die Lebensweise, den Beruf, die Liebe …) vergegenständlichte, wählten wir zum größten Teil blind: Nicht nur wussten wir nicht, was wir wählten, sondern vor allem wussten wir nicht einmal, dass wir wählten. Es hat nie den ersten – furchtbar abstrakten – Augenblick gegeben, wo wir tatsächlich angefangen haben zu entscheiden, was für ein Leben wir „wollen“. Diese „ersten“ von uns getroffenen Entscheidungen nämlich stellten sich erst nachträglich als „Entscheidungen“ heraus, waren aber doch ziemlich endgültig; was uns zu diesen Entscheidungen veranlasst hat – und zunächst dahin geführt hat, dass da überhaupt eine Wahl (ein Anfang) war –, das ist uns entgangen.

      Erst in einer zweiten Phase also kann sich, selbst wenn ein „neuer“ Anfang folglich nicht möglich ist, etwas abzeichnen, was einem Anfang ähnelt; kann etwas, was einer Auswahl nahekommt, entstehen. Nur durch die Klärung unserer Erfahrung und ein Abstandnehmen von dem, was sie unaufhörlich impliziert und aufdrängt oder eindämmt, kann etwas, was einer Initiative wenigstens sehr nahe kommt, hervortreten. Denn erst in dem, was sich allmählich als mögliche zweite Phase abzeichnet, nachdem man begonnen hat, in der Feinzeichnung wahrzunehmen, worum es im Leben geht, das heißt, nachdem man auch begonnen hat, die möglichen Wirkkräfte eben in diesem Grundstoff des bereits begonnenen Lebens zu erkennen, kann man auf sein Leben zurückkommen und anfangen, dieses Leben effektiver zu leben. Wird die Bedingung, die ein solch spukhaftes Beginnen ermöglicht, nicht womöglich erst gegen Ende verwirklicht? Denn zum Zeitpunkt des berühmten Einstands im Leben hatten wir zu ihm keine Distanz und daher auch kein Bewusstsein vom (für das) Beginnen. Wenn wir nunmehr jedoch auf das vergangene Leben zurückblicken, kommen wir dieser Fähigkeit, etwas in Gang zu setzen, näher. Das „Neue“ („erste“) ist utopisch (der mythische Anfang); indes hat sich das zweite, das sich von diesem Anfang abhebt, der als solcher nie existiert hat, unter der Hand eingeschleust und sozusagen dazwischen-geschoben. Ein neues Leben mag es zwar nicht geben, doch in der Wiederaufnahme (reprise) des Lebens kann man sich nunmehr – indem man korrigiert, was im Leben womöglich schlecht gewählt worden war, vor allem aber indem man sich in die Lage versetzt, durch den erlangten Abstand dort wählen zu können, wo vorher keine Wahl bestand – „heraushalten“ (ex-sistere heißt es auf Latein), sich außerhalb dessen halten, was das Leben bestimmte und in Grenzen fasste, von denen man nicht einmal wusste, dass man ihnen unterworfen war: Man kann beginnen, aus den Begrenzungen hinauszutreten, die man für schicksalshaft oder wesenhaft abgesteckt hielt, und in der Folge kann man beginnen – im eigentlichen Sinn des Wortes, der hier aber zu begünstigen sein wird – zu „ex-istieren“.

      II. Geklärte Wahrheiten

      Ich habe die Verwandlung, die geräuschlos vor sich geht und von der man nicht spricht – Stille auf beiden Seiten –, die stille Verwandlung genannt. Da sie umfassend und kontinuierlich ist, hebt sie sich vom Lauf unseres Lebens nicht ausreichend ab, als dass man sie sogleich bemerken würde. Dann, nachdem sie sich unaufhörlich weiter verzweigt und verfestigt, beginnt diese Verwandlung, wie eine Schaumspur eines Tages sichtbar zu werden: Endlich kommt ein Ergebnis zum Durchbruch, das unsere Aufmerksamkeit einfordert. Und dieses Hervortreten ist sogar umso geräuschvoller, als wir seine Entwicklung zuvor nicht wahrgenommen haben. Nun geschieht das Hervortreten eines zweiten Lebens aus dem Leben selbst auf folgende Art: Ausgehend vom winzig Kleinen, das sich ansammelt, vollzieht sich eine Biegung, die uns allmählich von dem wegführt, was dann rückblickend, mit gegebenem Abstand, als ein „erstes“ Leben erscheint. Man muss also diesen zweiten Aufbruch im Leben als Gegenteil eines plötzlichen Einbruchs denken und als Gegenteil all dessen, was das Prozesshafte der Erfahrung stören würde: Durch unterirdische Verschiebungen, die sich ohne unser Wissen vollziehen, beginnt eine Neuorientierung, durch stumme Neigung, die der Aufmerksamkeit und folglich dem Willen entgeht. Dann (aber), wenn sie sich hinreichend bestätigt hat, kommen – ausgehend von all den kleinen Verschiebungen, die durch gegenseitige Verstärkung ins Bewusstsein dringen – Entschluss und Verantwortung des Subjekts ins Spiel. Eine „Reform“ des Lebens kann beginnen.

      Es handelt sich streng genommen also weder um eine Häutung noch um eine Mutation: Häutung ist zu kontinuierlich organisch, während Mutation die Immanenz dieser Entfaltung durchbrechen würde. Reifung (der ihre Bekundung auf den Fersen folgt: das berühmte „er ist reifer geworden“) gibt ebenso wenig Rechenschaft von dem, was eben innerhalb dieses Prozesshaften zwar nicht gebrochen ist, doch Risse bekommen und damit ein neues Mögliches ausgelöst hat, das zu diesem Kippen führte. Das zweite Leben hält durch Implikation Einzug in das erste, während zugleich ein Freiraum erkennbar wird (entsiegelt wird), der sich davon ablöst. Tatsächlich wird ein Freiraum nur soweit verwirklicht, als man sich nach und nach aus den zugemuteten, zugleich gegebenen und erduldeten, Bedingungen heraushebt und sich „draußen hält“ – das ist es, was ich „ex-istieren“ nennen werde.

      Denn einerseits offenbart im Lauf der Jahre die Kohärenz, nach der sich mein Leben voreilig zu entwickeln begann, auf die ich mich blind tastend, ohne ausreichend darüber entscheiden zu können, eingelassen habe, von selbst ihre Grenzen und verlangt folglich nach ihrer Überwindung. Eine „primäre“ Logik, die man vielleicht die Logik des Drangs und der Eroberung nennen kann, des Ehrgeizes und der Besitznahme, das heißt auch der zur Schau getragenen Leistung, die nach Anerkennung heischt: sich der Welt aufdrängen und einen Platz darin erringen. Andererseits ist doch ein zweites Leben, sich einem Neuanfang annähernd, nur möglich, wenn sich das Subjekt die Gesamtheit seiner Nicht-Übereinstimmungen mit diesem ersten Leben, in das es ohne ausreichenden Abstand und Orientierung, um von sich aus entscheiden zu können, „eingetreten“ ist, zunutze macht und die Fähigkeit erlangt – eine im eigentlichen Sinne ethische Fähigkeit –, sich davon abzukoppeln, und zwar durch kleine, sukzessive Verschiebungen, bis es das beiseitelegen kann, was es solcherart