Stefan Meetschen

Das geheimnisvolle Leben der Anna Schäffer


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wie manche sogar schon in ihrer Verzweiflung ewig tot. Welch reiche Verdienste kannst Du Dir dagegen für die Ewigkeit sammeln und für diese Welt lass nur den lieben Gott und unsere heiligste Mutter Maria sorgen!«7

      Verdienste für die Ewigkeit. Das war gut gemeint, doch für einen jungen Menschen, der eine solch schmerzvolle Schocktherapie absolvieren musste, war das Leid, das Anna Schäffer zugemutet wurde, nicht leicht zu tragen. »Endlich«, so schreibt Emmeram H. Ritter, »brachte eine Salbe etwas Erleichterung und sie bekam einen Zinkleimverband. Nach anderthalb Jahren war sie so weit hergestellt, dass sie mühsam humpelnd wieder gehen konnte und nach Hause entlassen wurde. Sogleich wurde sie von ihrer Dienstherrschaft in Stammheim eingeladen zu kommen, aber nicht zur Arbeit, sondern zur Erholung durch Ruhe und bessere Verpflegung im Forsthaus. Doch lange hielt es Anna als müßige Kostgeherin nicht aus. Sie wollte arbeiten, sich dankbar erweisen. Bald hatte sie Gelegenheit dazu, weil die Köchin des Hauses ihren Dienst aufgesagt hatte. Sie trug immer noch den Zinkleimverband, der ihr in Erlangen angelegt wurde. Als sie eines Tages einen Eimer Wasser über die Stiege hinaufschleppte, wurde durch den Verband Eiter sichtbar. Damit endete ihr letzter Versuch, mit zusammengebissenen Zähnen den gewöhnlichen Weg eines materiell bettelarmen Mädchens zu gehen. Der Versuch war gescheitert.«8

       4. In der Schule des Leidens (Mai 1902 bis Herbst 1910)

      Wie niedergeschlagen und verzweifelt wird Anna Schäffer gewesen sein, als sie erkennen musste, dass ihr Plan gescheitert war: Aussteuer, Ordenseintritt, Mission? Und damit nicht genug: »Wieder daheim in Mindelstetten wurde sie endgültig ein Pflegefall. Sie musste nun dauernd liegen und wurde von ihrer Mutter aufopfernd gepflegt. Dr. Wäldin übernahm die medizinische Betreuung und fing seine Kuren wieder an. Abermals, wie vor Erlangen, musste er mit dem Messer hantieren: Ausschneiden des faulen Fleisches, Abschabung der Knochen, Hautübertragungen von ihrem eigenen Körper, aus den Armen ihres Bruders Michael und ihrer Schwester Kathi. Mit Salben, essigsaurer Tonerde, Höllenstein und Alaun behandelte er das bedauernswerte Mädchen mit viel Geduld. In zwei Jahren musste Anna dreißig Operationen bei schwacher Narkose über sich ergehen lassen. Schließlich verband der Arzt die Füße mit Xeroformgaze, die jeden fünften Tag erneuert werden musste, zweiundzwanzig Jahre lang, das letzte Mal an ihrem Sterbetag. Sie sagte oft: ›Wenn die Gaze auf das offene Fleisch kommt, brennt es drei Tage lang wie Pfeffer und darnach fängt schon wieder der Eiter zu brennen an.‹ Ein neuer Lebensabschnitt hatte nun für Anna begonnen. […] Nicht von heute auf morgen konnte sie sich in diese neue Lebensphase mit Leiden, Schmerz und Siechtum einfügen. Sie schrie zuweilen vor Schmerzen und Qualen und versuchte, wie jeder junge Mensch, Heilung und Erleichterung zu finden. Erst langsam wuchs die Überzeugung, dass das Unheil, das ihr in Stammham durch den Sturz in den siedenden Kessel zugestoßen war, sich als ein unabwendbares Verhängnis zeigte, aber kein von einem toten, herzlosen Räderwerk bewirktes Zermalmen, sondern ein vom Gott der Güte und der Liebe vorgesehenes Geschehen, von Ihm geschickt oder zugelassen sei.«1

      Dass Anna Schäffer Zeit brauchte, um den Sinn ihres Leidensweges zu verstehen, wird durch ein mystisches Ereignis im Jahr 1905 deutlich – vier Jahre nach dem Unfall, als Anna 23 Jahre alt war. Sie sah die Muttergottes weinen über die Sünden der Welt: »›[…] und ich frug sie, warum sie so weine.‹ Da antwortete ihr Maria: ›Ich weine deshalb, weil der lb. Jesus durch so viele Sünden von den Menschen beleidigt wird und die Welt so gottlos ist und leide alles mit dem lieben Jesus mit.‹ Anna dürfte damals die Hoffnung auf Heilung noch nicht aufgegeben haben, denn sie berichtet, dass sie die Schmerzensmutter gefragt habe: ›Ob ich gar nicht mehr gehen kann?‹ Maria gab ihr zur Antwort: ›Du musst noch viel mehr leiden als bisher!‹ Anna bemerkte in ihrem Visionsbericht dazu: ›Die darauffolgenden Jahre gestaltete sich mein Leiden so, dass ich noch viel mehr leiden durfte wie vorher.‹«2

      Doch es gab für Anna Schäffer, die mit einer Monatsrente von 9 Mark nicht gerade fürstlich unterstützt wurde, noch andere Probleme zu bestehen – nicht nur physische. »Nachdem ihr ältester Bruder, der Schreinergehilfe Michael, sich am 12.12.1904 mit Kreszenz Prüflinger verheiratet hatte, übergab die Mutter das kleine Anwesen traditionsgemäß ihrem ältesten Sohn. Durch die beengten Wohnverhältnisse in dem kleinen Haus entwickelten sich zwischen Anna und ihrer Mutter einerseits und Michael und dessen Gattin andererseits Spannungen. Die schwerbehinderte und nun ständig ans Bett gefesselte Schwester wurde nun von den jungen Leuten als Belastung empfunden, und sie legten ihrem Unwillen keine Zügel an. Das Verhältnis wurde zunehmend so unleidlich, dass es auf Dauer nicht mehr zu ertragen war. So verließen Anna und ihre Mutter, vermutlich nach einer heftigen Auseinandersetzung, noch in einer Nacht das ungastlich gewordene Haus. Gottlob fanden sie im Haus Nr. 37 am Ort bei der frommen Bauernfamilie Forchhammer, ›beim Hartl‹, so der Hausname, eine geräumige helle Stube im ersten Stock. Wohlgemerkt, Mutter und Tochter besaßen nach wie vor das Wohnrecht im ›Baderhaus‹, aber sie verzichteten vorerst darauf um des Friedens willen. Die Übersiedlung fand wahrscheinlich im Jahre 1905 statt. So vertauschten die beiden das winzige Stüberl, das Anna und ihrer Mutter kaum Platz geboten hatte, mit einem gemieteten Zimmer, wenige Schritte vom Elternhaus entfernt.«3

      In diesem Zimmer hatte Anna Schäffer alles, was sie fortan für ihr geistliches Leben benötigte: »[…] am Kopfende des Bettes ein kleines Regal mit Andachts- und Gebetbüchern, darunter auch die ›Nachfolge Christi‹; eine Muttergottesstatue, selbstverständlich ein Kruzifix; an der Wand hingen Bilder: Schweißtuch Christi, U. L. Frau von Altötting, Ecce Homo sowie von den ›Drei Heiligen von Griesstetten‹. An der Wand hing ein Rosenkranz. Außerdem befand sich im Zimmer ein kleiner Hausaltar, der einem Altar in der Kirche nachgebildet war.«4

      Zu den familiären Spannungen und dem nötigen Umzug kam, wie bereits angedeutet, die angespannte finanzielle Situation: »Die wenigen Ersparnisse, die sich Anna durch ihre Tätigkeit in Stammham erspart hatte, gingen bald zur Neige. Obwohl die zwei Schwestern Kathi und Kreszenz sowie Bruder Hans ihre Mutter und die Behinderte nach Möglichkeit unterstützten, reichte das Geld nicht aus, um die vielen ärztlichen Eingriffe, wenngleich es Dr. Wäldin so billig als möglich machte, begleichen zu können. Bald sagte man im Dorf, mit Anna werde die Gemeinde noch Lasten bekommen, was die Leidende mit großer Sorge erfüllt hat. Aber Pfarrer Rieger, der sich um die Unfallrente erfolgreich bemüht hatte, sorgte zusammen mit seiner Haushälterin Elis Imlauer für das tägliche Essen.«5

      Annas Schwester Kathi, die eigentlich eine Stelle außerhalb von Mindelstetten hatte, entschied sich eines Tages dazu, als Störnäherin (Hausnäherin, Anm. d. V.) in Mindelstetten zu arbeiten, um näher bei Mutter und Schwester zu sein und somit effektiver helfen zu können. So gut es ging, unterstützte Anna Schäffer sie bei den Näharbeiten. Es war ihr sehr wichtig, kein staatlicher Sozialfall zu sein. Sie wollte arbeiten, selbst für ihren Unterhalt sorgen. Eine Arbeitsethik, die angesichts ihres Zustands Respekt verdient und überhaupt nicht im Widerspruch stand zu ihrer religiösen Orientierung.

      »In der neuen Wohnstatt beim Forchhammer stellten die drei Frauen – auch Kathi hatte hier vorübergehend ihre Bleibe – das Bett von Anna so, dass sie zur Kirche sehen konnte, worüber die Leidende sehr glücklich zu sein schien.«6 Sichtkontakt mit dem Haus Gottes – wenn die Bewegungsfreiheit eingeschränkt und der Radius gezwungenermaßen eng geworden ist, werden Dinge, die sonst ganz selbstverständlich erscheinen, enorm wichtig und kostbar.

      Doch was für eine Kirche sah Anna Schäffer eigentlich? Ausgerechnet im Jahr 1905 vollzog sich in Mindelstetten ein Bauvorhaben, das die Gemeinde schon länger in Atem gehalten hatte. Im April 1905 wurde das alte Gotteshaus abgerissen, bis zum Oktober des gleichen Jahres ein neues errichtet und im Juni 1906 kam es zur Einsegnung der neuen Pfarrkirche durch den Regensburger Weihbischof, der bei dieser Gelegenheit auch Anna Schäffer, dem »leidenden Dienstmädchen«, einen Besuch abstattete.7 Anna Schäffer wird dies gefreut haben, doch die zentrale Kraftquelle war etwas anderes für sie: die hl. Kommunion, die Pfarrer Rieger ihr täglich brachte. Der Kommunionempfang war das größte Glück, das zentrale Ereignis des Tages. Wobei man wissen muss, dass die Praxis der täglichen Kommunion der Laien durch das Dekret »De quotidiana SS. Eucharistiae sumptione« des hl. Papstes Pius X. vom 20. Dezember 1905 gerade erst erlaubt und gefördert worden war.8