Christine Leutkart

Weiter leben!


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man eben zum Trauern braucht, egal, wie lange sie dauert. Ich hatte Glück, dass ich einen guten Rückhalt meines Arbeitgebers hatte. Immerhin war ich acht Monate weg und habe trotzdem meine alte Stelle wiederbekommen.

      Mit den Kindern kann ich heutzutage völlig zwanglos über Gerd und die Vergangenheit reden. Aber es gab früher Situationen, in denen wir uns gegenseitig auffangen mussten. Mein Sohn hatte zuerst das Problem, dass er meinte, er müsse in die Rolle des fehlenden Vaters und Mannes schlüpfen. Er fing sogar damit an, mir Vorschriften zu machen, und auch im Verein dachte er, er müsse Gerds Ansichten vertreten. Ich versuchte ihn zu entlasten: „Du musst es so machen, wie es dir entspricht!“

      Jetzt ist es knapp sieben Jahre her, und wir können inzwischen sogar oft lachen, wenn wir an manche typischen Verhaltensweisen von Gerd denken oder an lustige Situationen mit ihm.

      Wenn man die Lage annehmen kann, dann geht alles besser, sobald das Hadern aufhört. Ja, Gerd ist nicht mehr bei uns – aber die Erinnerungen, die in uns sind, nimmt uns keiner. Jetzt hat eben ein neuer Lebensabschnitt angefangen. Ein Glücksfall, wenn man das so erkennen kann, auch wenn es mal Rückschläge gibt. Das Leben ist schön, das erkennt man an Kleinigkeiten, die man vorher vielleicht nicht gesehen hat. Auch die Dankbarkeit nimmt zu. Aber ohne eine positive Grundeinstellung funktioniert das nicht. Wenn man immer die „trauernde Witwe“ bleibt, wird es nicht besser. Und man zieht andere mit runter. Auf die Fragen „Warum, wieso, weshalb?“ gibt es sowieso keine Antwort. Also nehme ich die Dinge so an, wie sie sind; das ist die einzige Art, damit fertigzuwerden. Wenn man früheren Zeiten hinterherweint, fügt man sich selbst Schaden zu. Man kommt nicht vorwärts. Aber Vorwärtskommen ist doch wichtig!

      Mit Franz erlebe ich heutzutage Sachen, von denen ich noch nicht einmal geträumt habe. Wir waren zum Beispiel in den Staaten; wer weiß, ob ich mit Gerd jemals dort hingekommen wäre. Das Leben ist wieder richtig schön. Ich kann zulassen, dass es mir gutgeht. Vor sieben Jahren hätte ich mir das niemals vorstellen können, so tief war das Tal – aber jetzt sehe ich wieder die Sonne.

      PUTZEN, KOCHEN, NACH DEM KIND SCHAUEN, WEITERLEBEN

      Herr A., 75 Jahre alt; seine Frau ist vor 20 Jahren vermutlich an einer nicht erkannten Herzentzündung verstorben. Die Sorge um die gemeinsame, damals dreijährige Tochter und die Liebe zur Musik hielten ihn aufrecht.

      Es war im März 2000, da sagten die Ärzte, sie würden die Geräte abschalten. Kerstins Organe waren alle ausgefallen und sie war an eine Maschine angeschlossen.

      Ich war zu dieser Zeit bei meiner großen Tochter in den Staaten, sie hatte gerade ein Baby bekommen. An dem Abend, bevor ich flog, wollte Kerstin, dass ich bleibe. „Ja, warum?“ „Mir geht’s nicht gut.“

      Eine Woche vor meiner Abreise hatte Kerstin so starke Zahnschmerzen, dass sie weinte und mich in der Nacht aufweckte. Sie war immer hart im Nehmen, und das zeigte mir, dass es richtig schlimm sein musste. Sie ging am nächsten Morgen zum Zahnarzt, und der stellte fest, dass sie einen abgestorbenen Zahn hatte. Den konnte man jetzt erst bemerken, weil er damit begonnen hatte, die anderen Zähne anzugreifen. Darum die Schmerzen. Der Arzt bohrte den Zahn auf, aber da kam nicht mehr viel raus. Wir dachten damals, damit sei die Sache erledigt. Aber vermutlich war der ganze Dreck schon im Blut.

      „Klar bleibe ich da. Ich storniere den Flug“, beruhigte ich sie. Das wollte sie dann aber doch nicht. Deshalb flog ich am nächsten Tag wie geplant. Vielleicht hätte ich bleiben sollen. Aber hätte es etwas genützt? Die Entzündung war schon weit fortgeschritten.

      An dem Abend vor ihrem Tod hat sie im Garten gearbeitet, danach bekam sie im Schulterbereich starke Schmerzen. Ihre Eltern kamen zu ihr auf die Alb, wo wir wohnten. In dieser Nacht nahmen die Schmerzen immer mehr zu. Kerstin stand auf, und ihre Mutter kochte einen Tee. Es war schon fast am Morgen, da ging es Kerstin dermaßen schlecht, dass ihre Mutter sagte: „Komm, wir beten.“ Dann hörte Kerstin irgendwann zu atmen auf. In den Armen ihrer Mutter wurde sie bewusstlos. So schnell kann kein Rettungsdienst kommen, wie sie medizinische Hilfe gebraucht hätte. Der Notarzt versuchte sie wiederzubeleben, aber vermutlich war sie schon hirntot, bis er kam. Sie lag im Koma, und die Ärzte veranlassten, dass sie mit dem Hubschrauber in eine Spezialklinik geflogen wurde.

      In Amerika erreichte mich dann der Anruf. Meine älteste Tochter nahm ihn zuerst entgegen und weckte mich: „Du musst aufstehen. Es ist etwas Schlimmes passiert.“ Am Telefon sagte der Arzt: „Sie müssen damit rechnen, dass Ihre Frau stirbt.“ Er sagte auch noch: „Sie trifft keine Schuld“, aber es war natürlich trotzdem hart. Ich beeilte mich, wieder nach Hause nach Deutschland zu kommen. Was für ein Höllenflug! Ich hatte zwei Tage nicht geschlafen, bis ich endlich in der Klinik war. Kerstin hing an allen möglichen Instrumenten. Ein Pfleger sagte zu mir: „Sie können ihre Hand halten und mit ihr reden, vielleicht hört sie Sie ja.“ Das habe ich dann auch gemacht. Aber es kam keine Reaktion, null. Dann fuhr ich nach Hause. Alle waren natürlich aufgebracht. Die Schwiegermutter hat rotiert … Am nächsten Tag fuhr ich mit meiner Schwägerin nochmals zur Klinik. Da hieß es gleich: „Abschalten.“ Das war’s dann.

      Saskia war knapp drei Jahre, als ihre Mutter verstarb. Aber angefangen hat es eigentlich schon nach der Geburt, dass Kerstin sich schlecht fühlte; wegen jeder Kleinigkeit rastete sie aus. Ich wusste nicht, warum. Ob da auch schon was war?

      Die Ärzte baten mich, einer Obduktion zuzustimmen. Meine Schwägerin und ich diskutierten, kamen aber zu dem Schluss: „Wir lassen sie in Ruhe.“ Wir wollten das nicht.

      Hinterher habe ich recherchiert: Wenn du was mit den Zähnen hast und das wird nicht behoben, dann kann die Entzündung weitergehen und das Herz als erstes Organ befallen – und das kann zum Tod führen. Ihr ging es ja schon seit Monaten schlecht, aber dass das mit dem abgestorbenen Zahn zusammenhängen könnte, darauf ist keiner gekommen. Der Arzt, den sie vor einem halben Jahr schon aufgesucht hatte, verschrieb ihr immer bloß Antibiotika: „Der Herd muss weg!“ Der Zahn wurde aufgebohrt und ein Medikament reingestopft, aber der ganze Eiter war schon im Blutkreislauf. Der letzte Zahnarzt hätte sie warnen sollen: „Pass auf, du hast schon seit einem halben Jahr einen abgestorbenen Zahn in deinem Mund, du musst zur Beobachtung ins Krankenhaus.“

      Ich suchte den Sarg aus und ein schönes Kleid. Und war fix und fertig.

      Kerstin war meine dritte und meine liebste Frau. Sie war 20 und ich 39, als wir uns kennenlernten, zusammengelebt haben wir aber nur die letzten vier Jahre. Trotzdem sahen wir uns die Zeit davor jeden Tag. Insgesamt waren wir 18 Jahre zusammen.

      Ich würde sagen, wir haben uns immer an unserer Verbindung erfreut. Das war Liebe, auch bei ihr. Kerstin war die Ex-Freundin eines befreundeten Musikers gewesen. Sie hat mir immer meine Freiheiten gelassen, wenn ich bei meinen Kumpels war, wir gekifft und Musik gemacht haben. Ich war sehr lange richtig in sie verliebt, hatte Träume gehabt, bin über Dörfer geflogen … Doch ihre Eltern meinten, ich sei zu alt für sie.

      Nach ihrem Tod hat mir eigentlich keiner geholfen. Zwei, drei Leute kamen mal vorbei und haben kurz mit mir geredet, aber dass jemand gefragt hätte, ob er für mich etwas tun könnte, das kam nicht vor. Aber wie hätte mir jemand helfen sollen? Das kann in der Situation doch sowieso keiner. Die Verpflichtung mit dem Kind war für mich selbstverständlich, da habe ich nicht drüber nachgedacht. Ich habe meine Frau vermisst.

      Am Wochenende bin ich immer von der Alb runtergefahren, habe Saskia geschnappt und sie zu meinen Schwiegereltern gebracht, weil ich dachte, sie ist das Kind ihrer Tochter und sie freuen sich an ihr. Alleine auf der Alb sein, das war unerträglich. Ich musste alles selber machen: früh aufstehen, Saskia in die Kita bringen, arbeiten gehen, Saskia hinterher wieder abholen, einkaufen gehen, daheim etwas kochen … Ich habe einfach gemacht, was angesagt war. Waschen, putzen, kochen, nach dem Kind schauen, weiterleben. Das war das Wichtigste. Aber es war einfach niemand da. Ich hatte Bekannte, aber hier auf der Alb keine richtigen Freunde. Am Wochenende habe ich dann alte Freunde besucht, in der Kneipe rumgehangen, gekifft und gesoffen. Meistens stand ich drüber, aber manchmal habe ich geheult. Dann haben mich die alten Freunde getröstet. Mein Körper hat sich gemeldet, ich war öfter krank. Antibiotika nützten nichts, ich bekam Fieber und bin trotzdem im gleichen Jahr, als Kerstin starb,