Aufmarsch gegen Sowjetrussland werde ich gegebenenfalls acht Wochen vor dem beabsichtigten Operationsbeginn befehlen. Vorbereitungen, die eine längere Anlaufzeit benötigen, sind – soweit noch nicht geschehen – schon jetzt in Angriff zu nehmen und bis zum 15. 5. 41 abzuschließen.
Entscheidender Wert ist jedoch darauf zu legen, dass die Absicht eines Angriffes nicht erkennbar wird.
I. Allgemeine Absicht:
Die im westlichen Russland stehende Masse des russischen Heeres soll in kühnen Operationen unter weitem Vortreiben von Panzerkeilen vernichtet, der Abzug kampfkräftiger Teile in die Weite des russischen Raumes verhindert werden.
In rascher Verfolgung ist dann eine Linie zu erreichen, aus der die russische Luftwaffe reichsdeutsches Gebiet nicht mehr angreifen kann. Das Endziel der Operation ist die Abschirmung gegen das asiatische Russland aus der allgemeinen Linie Wolga – Archangelsk. So kann erforderlichenfalls das letzte Russland verbleibende Industriegebiet am Ural durch die Luftwaffe ausgeschaltet werden. […]
II. Voraussichtliche Verbündete und deren Aufgaben:
1.) Auf den Flügeln unserer Operation ist mit der aktiven Teilnahme Rumäniens und Finnlands am Kriege gegen Sowjetrussland zu rechnen.
In welcher Form die Streitkräfte beider Länder bei ihrem Eingreifen deutschem Befehl unterstellt werden, wird das Oberkommando der Wehrmacht zeitgerecht vereinbaren und festlegen.
2.) Rumäniens Aufgabe wird es sein, den Angriff des deutschen Südflügels, wenigstens in seinen Anfängen, mit ausgesuchten Kräften zu unterstützen, den Gegner dort, wo deutsche Kräfte nicht angesetzt sind, zu fesseln und im Übrigen Hilfsdienste im rückwärtigen Gebiet zu leisten.
III. Die Führung der Operationen:
A.) Heer (in Genehmigung der mir vorgetragenen Absichten):
In dem durch die Prip[j]etsümpfe in eine südliche und eine nördliche Hälfte getrennten Operationsraum ist der Schwerpunkt nördlich dieses Gebietes zu bilden. Hier sind 2 Heeresgruppen vorzusehen.
Der südlichen dieser beiden Heeresgruppen – Mitte der Gesamtfront – fällt die Aufgabe zu, mit besonders starken Panzer- und mot. Verbänden aus dem Raum um und nördlich Warschau vorbrechend die feindlichen Kräfte in Weißrussland zu zersprengen. Dadurch muss die Voraussetzung geschaffen werden für das Eindrehen von starken Teilen der schnellen Truppen nach Norden, um im Zusammenwirken mit der aus Ostpreußen in allgemeiner Richtung Leningrad operierenden nördlichen Heeresgruppe die im Baltikum kämpfenden feindlichen Kräfte zu vernichten. Erst nach Sicherstellung dieser vordringlichen Aufgabe, welcher die Besetzung von Leningrad und Kronstadt folgen muss, sind die Angriffsoperationen zur Besitznahme des wichtigen Verkehrsund Rüstungszentrums Moskau fortzuführen.
Nur ein überraschend schnell eintretender Zusammenbruch der russischen Widerstandskraft könnte es rechtfertigen, beide Ziele gleichzeitig anzustreben.
Bei der südlich der Pripjet-Sümpfe angesetzten Heeresgruppe ist der Schwerpunkt im Raum von Lublin in allgemeiner Richtung Kiew zu bilden, um mit starken Pz.Kräften schnell in die tiefe Planke und den Rücken der russischen Kräfte vorzugehen und diese dann im Zuge des Dnjepr aufzurollen.
Sind die Schlachten südlich bzw. nördlich der Pripjet-Sümpfe geschlagen, ist im Rahmen der Verfolgung anzustreben: im Süden die frühzeitige Besitznahme des wehrwirtschaftlich wichtigen Donez-Beckens, im Norden das schnelle Erreichen von Moskau.
Die Einnahme dieser Stadt bedeutet politisch und wirtschaftlich einen entscheidenden Erfolg, darüber hinaus den Ausfall des wichtigen Eisenbahnknotenpunktes. […] 14
Hitlers »Weisung Nr. 21 Fall Barbarossa« war der Auftakt zum verhängnisvollen Russlandfeldzug. In seinem »unerschütterlichen Glauben« an die bis dahin unbezwungene Schlagkraft der Wehrmacht und an die Unfehlbarkeit seiner Entscheidungen befahl der Oberste Befehlshaber am 30. April 1941, dass der Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, um 3.15 Uhr früh, zu erfolgen habe. Nach der Auffassung von Joachim Hoffmann war er »mit der Eröffnung der Kriegshandlungen dem von Stalin vorbereiteten Angriffskrieg nur kurzfristig zuvorgekommen«.15
An dem Tag, als die Deutschen die Sowjetunion angriffen, erklärten Italien und Rumänien, das die UdSSR und den Kommunismus besonders fürchtete, Sowjetrussland den Krieg. Die unter deutschem Einfluss stehende Slowakei folgte am 23. Juni 1941, Finnland am 26. Juni und Ungarn am 27. Juni. Am 30. Juni brach die französische Vichy-Regierung die diplomatischen Beziehungen zur UdSSR ab. Die Türkei blieb ebenso wie Bulgarien formal neutral.
2.
Das deutsch-sowjetische Kräfteverhältnis
Wie groß war nun vor Beginn der größten militärischen Auseinandersetzung der Weltgeschichte das jeweilige Kräftepotenzial? So viel ist gewiss: »Was die Deutschen angeht, so war ihnen das tatsächliche Ausmaß der Stärke der Sowjetunion verborgen geblieben […]. Die deutschen Kommandobehörden zeigten sich nach dem 22. Juni 1941 […] überrascht von dem gegnerischen Potenzial, auf das sie östlich der Grenze stießen.«16
Wenden wir uns zunächst den deutschen Truppen und ihren Verbündeten zu. Das deutsche Heer verfügte über 145 Divisionen (110 Infanterie- und Gebirgs-Divisionen sowie 19 Panzer-, 15 motorisierte und eine Kavallerie-Division) mit zusammen rund drei Millionen Mann; Rumänien über zwölf Infanterie-Divisionen und zehn Brigaden (davon drei Gebirgs-Brigaden); Italien über drei Infanterie-Divisionen; Finnland über elf Infanterie-Divisionen und fünf Gebirgs-Brigaden (Ski); Ungarn über zwei Infanterie-Divisionen und eine Kavallerie-Brigade; die Slowakei über zwei Infanterie-Divisionen.
Im Einzelnen vollzog sich der deutsche Aufmarsch im Osten in folgenden Etappen: Bis zum 20. Juli 1940 waren 23 Divisionen vorhanden, am 7. Oktober waren es 30 Divisionen. Am 26. Oktober erfolgte die Neugliederung des Heeres. Am 21. Dezember waren 34 Divisionen einsatzbereit; im Februar/April 1941 in der 1. bis 2. Aufmarschstaffel 103 Divisionen und bis zum 20. Mai 1941 in der 3. Aufmarschstaffel 120 Divisionen. Mitte Mai begann die Verlegung der deutschen Luftstreitkräfte von Westen nach dem Osten. Bis zum 2. Juni 1941 waren an der Ostfront 129 Divisionen aufmarschiert. Vom 3. bis 23. Juni 1941 erfolgte die Zuführung von 12 Panzer- und 12 motorisierten Divisionen. Das entsprach 75 % des deutschen Feldheeres.
Die sowjetischen Truppen umfassten 185 Divisionen (davon 133 Schützen-, 10 Panzer-, 24 Kavallerie-Divisionen sowie 36 Panzer- und motorisierte Brigaden) mit zusammen über fünf Millionen Mann. Waffen und Material waren reichlich vorhanden, jedoch vielfach veraltet. Die Rote Armee befand sich am Vorabend des deutsch-sowjetischen Krieges noch in einer Phase der Reorganisation. Sie besaß etwa 24 000 Panzer (davon nur ein Viertel des modernen Typs), zahlreiche gute Artillerie und vor allem viele Soldaten, allein über 12 Millionen ausgebildete Reservisten. »Bis zum 1. Juli 1941 wurden 5,3 Millionen Mann in die Streitkräfte einberufen«, erfahren wir aus sowjetischer Quelle. »Zu den Konzentrierungsräumen wurden, vor allem im Eisenbahntransport, 291 Schützendivisionen, 94 Schützenbrigaden und mehr als 2 Millionen Mann befördert. Gleichzeitig wurde eine große Menge materieller Mittel, hauptsächlich Munition, Treibstoff und Militärtechnik, transportiert.«17
Drei Verteidigungslinien, die von unterschiedlichem militärischen Wert waren, sollten einen deutschen Angriff in Russland aufhalten – die erste entlang der Demarkationslinie, die zweite entlang der alten russischpolnischen Grenze an der sogenannten »Stalin-Linie« und die dritte hinter dem Dnjepr und der Düna.
Doch die Sowjetunion stand nicht allzu lange allein. Bereits am 23. Juni 1941, also nur einen Tag nach dem deutschen Überraschungsangriff auf die UdSSR, hatte die amerikanische Regierung