Frederick Neuhouser
Kritik der Ungleichheit
Eine Rekonstruktion von
Rousseaus Zweitem Diskurs
Aus dem Amerikanischen übersetzt von
Christiana Goldmann
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eISBN (PDF) 978-3-7873-3814-6
eISBN (ePub) 978-3-7873-3829-0
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Inhalt
Abkürzungen der Schriften Rousseaus
Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit
Quelle der sozialen Ungleichheit ist der amour propre
Die normativen Mittel der Natur
Beurteilung der Legitimität sozialer Ungleichheiten
Rousseaus Kritik und ihre Bedeutung für uns
Einleitung
In diesem Buch möchte ich eine kurze, aber gehaltvolle philosophische Einleitung in eine der einflussreichsten Schriften in der Geschichte der europäischen Philosophie liefern, in Jean-Jacques Rousseaus Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) oder, wie er gemeinhin genannt wird, den Zweiten Diskurs. (Der ›Zweite‹, weil er auf einen früheren folgt, den Diskurs über die Wissenschaften und Künste [1751]. Beide Diskurse wurden in Beantwortung einer Preisfrage eingereicht, die unter der Schirmherrschaft der Akademie von Dijon stand.) Eine Einleitung ist dieses Buch insofern, als es keine nähere Vertrautheit mit der Schrift voraussetzt – gelesen haben sollte man sie freilich! –, und philosophisch ist es, weil es keinen Kommentar im üblichen Sinn des Wortes bereitstellt. Es möchte vielmehr das zentrale Argument des Zweiten Diskurses destillieren und rekonstruieren, eine Aufgabe, die sich als erstaunlich schwierig erweist. Die Entscheidung, dieses Buch zu schreiben, fiel an einem Tag, an dem ich zum vielleicht hundertsten Mal die Schrift in einem Proseminar besprach und erkannte, dass weder ich noch meine Studenten Rousseaus Antworten auf die beiden scheinbar klaren Fragen formulieren konnten, die er sich vornimmt: Was ist die Quelle der Ungleichheit unter den Menschen und lässt sie sich rechtfertigen? Die Schrift, so wurde mir deutlich, ist voller glänzender Einsichten und meisterlicher rhetorischer Kunstgriffe. Sie ist allerdings auch ein quälendes Labyrinth, dessen argumentativer Faden nur sehr schwer zu verfolgen ist. Infolge dessen ist der Zweite Diskurs eine der meistgelesenen Schriften im Kanon abendländischer Philosophie, und zugleich ist er der philosophisch am wenigsten verstandene. Das ist beklagenswert und das nicht nur, weil der Zweite Diskurs eine unterschiedliche Gruppe von Philosophen in den späteren Jahrhunderten beeinflusst hat (so Hegel, Marx, Nietzsche, Freud), sondern auch, weil er mit einer stimmigen Argumentation aufwartet, die auf eine Reihe von Fragen, die im Mittelpunkt der heutigen politischen Philosophie und Sozialtheorie stehen sollten, noch stets einflussreiche und gewichtige Antworten anbietet. Wie ich behaupten werde, enthält Rousseaus Schrift ein durchgängiges, umfassendes Argument, das nicht nur darlegen will, wodurch soziale Ungleichheiten verwerflich werden (sofern es der Fall ist), sondern auch, warum Ungleichheit ein so herausragendes und hartnäckiges Merkmal menschlicher Gesellschaften ist.
Ein Grund, warum der Zweite Diskurs sich als so schwierig entpuppt, ist vielleicht der, dass die darin geäußerte Position weitaus verwickelter ist, als seine von Fachbegriffen freie Prosa und die scheinbare Einfachheit seiner Fragen den Leser erwarten lässt. Am Ende gibt Rousseau nämlich erstaunlich vielschichtige Antworten auf seine beiden Leitfragen. Hinsichtlich der ersten erklärt er, Ungleichheit sei weder eine unmittelbare noch eine notwendige Folge der Natur des Menschen (oder der Natur im allgemeineren Sinn), und die grundlegenden Bedingungen des Lebens in einer Gesellschaft mache das Auftreten verderblicher Formen der Ungleichheit – wie auch anderer sozialer Übel – nahezu unvermeidlich. Hinsichtlich der zweiten behauptet er, dass zwar die meisten, wenn auch nicht alle bekannten Formen sozialer Ungleichheit moralisch verwerflich sind, nicht aber an sich von Übel. Dies sind sie lediglich bezogen auf gewisse, von ihnen erzeugte Folgen. Es mag schwerfallen, dies schon bei einer oberflächlichen Lektüre zu erkennen, aber dennoch bietet Rousseau eine Reihe von Kriterien an, um annehmbare von unannehmbaren Formen der Ungleichheit zu unterscheiden, und umgeht so die grob vereinfachende utopische Ansicht, soziale Ungleichheit sei in all ihren Formen zu kritisieren.
Die Bedeutung, die das für uns heute hat, ist kaum zu überschätzen. In den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Kommunismus in Osteuropa hat die soziale Ungleichheit in nahezu allen Teilen der Welt dramatisch zugenommen. (Und was immer die Nutznießer des Kapitalismus uns glauben machen wollen, das Ende des europäischen Kommunismus hat, auch wenn er dadurch nicht vollständig erklärt wird, etwas mit diesem Trend zu tun.) Die am leichtesten auszumachende Form sozialer Ungleichheit ist die ökonomische, und wir verfügen über zahlreiche empirische Belege für die Behauptung, dass nicht nur in den sich entwickelnden Ländern, sondern auch in den reichsten und technisch fortgeschrittensten – ein besonders schockierendes Beispiel dafür sind die USA – die Ungleichheit größer ist, als sie zu jedem anderen Zeitpunkt in der jüngeren Vergangenheit war, und dass die Kluft zwischen Arm und Reich stetig zunimmt, sofern die von ihr Benachteiligten sich politisch nicht massiv dagegen zur Wehr setzen. Statistiken, die dies belegen, sind ohne weiteres zu