href="#u4d4d6192-a621-42ac-aae3-5fa8b18425d2">4. Kapitel wird dargelegt, wie sich gestützt auf die in den ersten drei Kapiteln entwickelten Positionen eine alternative Auffassung von Recht – Recht innerhalb der Gesellschaft anstelle des Naturgesetzes – entwerfen lässt und wie diese Auffassung auf eine bestimmte, ganz besonders zeitgemäße Frage bezüglich der Grenzen einer legitimen ökonomischen Ungleichheit anwendbar ist. (Das Kapitel schließt mit einer methodischen, oben bereits aufgeworfenen Frage: Wie geht Rousseaus Genealogie im Einzelnen vor, um sowohl die normativen Fragen als auch jene des Erklärungsmodells zu beantworten, die den Anlass für die Abfassung des Zweiten Diskurses geboten haben.) Schließlich verfolgte Rousseau mit dem Zweiten Diskurs die klare Absicht, uns dabei zu helfen, »den jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können« (DU, 67 / OC III, 123), und indem wir betrachten, welchen Gewinn die zeitgenössische politische Philosophie aus den Einsichten des Zweiten Diskurses ziehen könnte, soll im 5. Kapitel gezeigt werden, dass er auch heute noch relevant ist.
Bereits an dieser Stelle sei bemerkt, dass das vorliegende Buch mit diesem Konzept keine vollständige Interpretation des Zweiten Diskurses wird vorlegen können. Möglicherweise kann kein Buch das glaubhaft für sich beanspruchen, ganz sicherlich aber nicht dieses. Der Zweite Diskurs ist viel zu reichhaltig, als dass man alles darin Wertvolle mit einem Ansatz wie dem meinigen zu fassen bekommt, der sich darauf beschränkt, die beiden Fragen zu beantworten, die ausdrücklich als sein Gegenstand benannt werden. Dass ich mich ausschließlich auf das Thema der Ungleichheit konzentriere, obschon es zweifellos das zentrale Anliegen des Zweiten Diskurses ist, wird notwendig viele wichtige Gedanken außer Acht lassen, für welche die Schrift zu Recht berühmt ist. Meine Interpretation sollte daher von anderen ergänzt werden, die beispielsweise den Themen Entfremdung, Sozialpathologie, Übel des Privateigentums oder den Mängeln liberalen Denkens und liberaler Gesellschaften mehr Aufmerksamkeit schenken. Doch auch wenn man sich nur auf die vom Zweiten Diskurs »offiziell« aufgeworfenen Fragen konzentriert, lässt sich dies mit großem Gewinn tun – jedenfalls hoffe ich, den Beweis dafür hier anzutreten.
Obgleich ich versucht habe, mein Augenmerk nur auf eine der Hauptschriften Rousseaus, den Zweiten Diskurs, zu richten, hat es sich als notwendig erwiesen, auch die Gedanken anderer Schriften aufzunehmen, um das Hauptargument des Zweiten Diskurses zu rekonstruieren. Meiner Ansicht nach ist dies kein Manko meiner Interpretation, sondern ein Zeugnis für die wesentliche Einheit des philosophischen œuvres Rousseaus. Dass die beiden Schriften, die ich am ausgiebigsten mit herangezogen habe, der Gesellschaftsvertrag und der Emile sind, erstaunt wohl nicht: Der Gesellschaftsvertrag wegen seiner Vorstellung über die Grundlagen des Rechts innerhalb der politischen Gesellschaft und der Emile vor allem wegen seiner Behandlung der menschlichen Natur.
Mehr als einmal haben die Hörer oder die Leser von Teilen dieses Buches bemerkt und mitunter kritisch, dass meine Lesart von Rousseau zu hegelianisch oder kantianisch ist. Richtig daran ist, dass der von mir hier dargestellte Rousseau in hohem Maße zur deutschen Tradition der politischen und der Gesellschaftsphilosophie im 18. und 19. Jahrhundert gehört – ja er ist tatsächlich ihr Begründer! –, doch halte ich dies eher für eine Stärke als für eine Schwäche meiner Interpretation. Für eine Stärke halte ich es aus zwei Gründen: Erstens ist die Behauptung, Rousseau sei der Urheber dieser großen deutschen Tradition (Rousseaus Einfluss auf Kant, Fichte, Hegel, Marx und sogar Nietzsche ist überall spürbar und geht in die Tiefe), nicht allein historisch richtig, sie steckt uns auch manch ein Licht auf, und zweitens sind die überzeugendsten philosophischen Positionen, die sich Rousseau zuschreiben lassen, diejenigen, die zutage treten, wenn man seine Schriften mit Blick drauf liest, wie seine deutschen Nachfolger sich seine Ideen angeeignet und weiterentwickelt haben – ohne, hoffentlich, dass Rousseau dadurch von ihnen ununterscheidbar würde. Ich bin mir bewusst, dass zumindest die zweite These umstritten ist und dass viele Leser des Zweiten Diskurses und dieses Buches ihr nicht zustimmen werden. Einige werden sagen – und haben gesagt –, meine Interpretation Rousseaus sei historisch falsch, weil sie nicht nur die vielen nicht-deutschen Einflüsse auf sein Denken ignoriert oder unterschätzt – zum Beispiel die Platons, der Stoiker, Machiavellis und Montesquieus, sondern auch die historische Besonderheit der Probleme, auf die er in seinen gesellschaftlichen und politischen Gedanken eine Antwort sucht. Andere werden ohne Zweifel behaupten, Hegel und Kant hätten durch ihre Aneignung der Rousseau’schen Ideen diesen ihre Brillanz und Originalität geraubt und zudem ihren wahren Schatz verdunkelt, indem sie sie einer philosophischen Einstellung anbequemen, die großen Wert auf Systematik und logische Kohärenz legt. Diese Bedenken über das Fazit meines Buches verdienen eine nähere Betrachtung: Zweifelsohne enthalten sie ein Körnchen Wahrheit. Statt direkt auf diese Kritik einzugehen, werde ich jedoch in den folgenden Kapiteln meine Lesart von Rousseau, mehr oder weniger für sich genommen, anbieten und meinen Lesern die Entscheidung überlassen, ob meine Art, den Zweiten Diskurs zu lesen, erhellend, entstellend oder – vielleicht notwendigerweise – eine Mischung aus beidem ist.
Ein weiteres Merkmal meiner Rekonstruktion des Zweiten Diskurses ist unbedingt noch zu nennen. Die von Philosophen, Politikwissenschaftlern und Literaturkritikern verfasste Sekundärliteratur zu Rousseau ist hochgradig vielfältig, unübersehbar groß und meistenteils sehr gut. Obwohl ich von der Lektüre eines großen Teils dieser Literatur profitiert habe, ist es mir unmöglich gewesen, meine Schulden hier im Detail anzuerkennen. In meinem früheren Buch über Rousseau9 habe ich mich sehr viel ausführlicher mit der Sekundärliteratur auseinandergesetzt, doch diesmal habe ich mich entschlossen, das zu vermeiden, um eine schlankere, in erster Linie philosophische (argumentzentrierte) Einleitung in den Zweiten Diskurs zu verfassen, die sich vor allem auf das Interpretieren und Rekonstruieren von Rousseaus klassischer Schrift konzentriert. Dieses Versäumnis habe ich dadurch ein wenig zu korrigieren versucht, dass ich eine sehr knappe Liste der »Vorschläge zur weiteren Lektüre« bereitstelle, die den Leser anregen soll, sich mit einem Teil der Sekundärliteratur näher zu beschäftigen, die für meine Interpretation des Zweiten Diskurses einschlägig ist. Niemand kann beanspruchen, zu irgendeiner der Schriften Rousseaus das letzte Wort zu haben, und dass ich die Sekundärliteratur in diesem Buch vergleichsweise vernachlässigt habe, sollte nicht dahingehend verstanden werden, dass ich dies stillschweigend für mich beanspruche.
Kapitel 1
Die Natur ist nicht die Quelle sozialer Ungleichheit
Natürliche und soziale Ungleichheiten
Im vorliegenden Kapitel soll zum einen geklärt werden, welche Frage Rousseau zu stellen meint, wenn er den Ursprung der menschlichen Ungleichheit untersucht, und zum anderen, wie der erste negative Teil dessen beschaffen ist, was er als Antwort auf jene Frage betrachtet. Mit anderen Worten: Es sucht, sein Argument für die These zu rekonstruieren, Ungleichheiten – oder genauer die besonderen, ihn vor allem interessierenden Arten von Ungleichheit – hätten ihren Ursprung nicht in der Natur, weder in der menschlichen noch in den natürlichen Bedingungen menschlicher Existenz und auch nicht in einer Kombination von beidem. Am Ende dieses Kapitels wird uns deutlich geworden sein, warum Rousseau sich für berechtigt hält, am Schluss des Zweiten Diskurses zu erklären, er habe gezeigt, dass die Ungleichheit »im Naturzustand fast gleich null war« (DU, 267 / OC III, 162).
Bevor wir sein Argument rekonstruieren, müssen wir uns jedoch darüber klar werden, welches besondere Phänomen Rousseau im Auge hat, wenn er im Zweiten Diskurs von Ungleichheit spricht. Bereits die ersten Seiten des Zweiten Diskurses zeigen deutlich, dass Rousseau nicht nach dem Ursprung der Ungleichheit im Allgemeinen fragt, sondern nur nach dem Ursprung dessen, was er moralische Ungleichheit nennt. Moralische – oder politische – Ungleichheiten unterscheiden sich, wie behauptet, von natürlichen – oder physischen – Ungleichheiten in zwei wichtigen Hinsichten. Erstens sind sie nicht das Produkt der Natur, vielmehr sind sie – um einen Begriff zu verwenden, den Rousseau wiederholt im Zweiten Diskurs anführt – künstlich, was so viel heißt wie: Sie entstehen durch eine Art Konvention, die letztlich auf der Zustimmung der Menschen beruht (DU, 77 / OC III, 131). Zweitens sind moralische Ungleichheiten in dem Sinn sozial,