oder Angemessenheit patriarchalischer Herrschaft glauben – darunter viele Frauen. Diese Einsicht ist eng mit einer, wie Rousseau meint, allgemeinen Wahrheit über das Sozialleben der Menschen verbunden: Institutionen, die allein von brutaler, physischer Gewalt oder der Drohung damit abhängen, während keiner von denjenigen, die an ihnen teilhaben, von ihrer Legitimität überzeugt ist, wären höchst instabil und ineffizient, und das nicht zuletzt deshalb, weil ein großer Teil der gesellschaftlichen Ressourcen darauf verwendet werden müsste, Zwangsmechanismen so aufrechtzuerhalten, dass die Mitglieder der Gesellschaft sie für allgegenwärtig und unentrinnbar halten.
Die Zustimmung, mittels deren die meisten sozialen Ungleichheiten autorisiert werden, ist daher nicht die für Verträge typische Zustimmung, bei der die vertragsschließenden Parteien die Bedingungen ihrer Beziehung aushandeln und ihnen ausdrücklich zustimmen, bevor sie in diese Beziehung eintreten. Die Zustimmung, die Ungleichheiten gründet, beruht vielmehr darauf, dass mehr oder weniger bewusste Überzeugungen über die Angemessenheit bestimmter Praktiken und Institutionen gehegt werden. Der Grund dafür, dass Rousseau dies für einen Typ von Zustimmung hält, liegt darin, dass, wie wir unten sehen werden, Überzeugungen oder »Meinungen« letzten Endes auf unserer Freiheit beruhen. Etwas zu glauben verlangt, dass wir aktiv der Aussage zustimmen, das-und-das sei der Fall. Vielleicht wird es deutlicher, wenn man sagt, eine Überzeugung zu haben, beispielsweise die, dass Männer von Natur aus dazu geeignet sind, über Frauen zu herrschen, beinhaltet eine Art von Verantwortung für das Geglaubte: Welche Überzeugungen wir haben, und sei es auch nur vage und stillschweigend, liegt letztlich in dem Sinn bei uns, dass es in unserer Macht als denkende Subjekte steht, über ihre Angemessenheit nachzudenken und sie dann im Lichte dieser Überlegungen fallenzulassen oder zu revidieren – sie den Belegen anzupassen, die unserer Ansicht nach für oder gegen sie sprechen. Genau darum sind soziale Ungleichheiten künstlich. Sie gehören zu der Sorte von Dingen, deren Existenz die aktive Teilnahme der von ihnen Betroffenen verlangt. Sie sind, wenn auch nicht eben absichtlich geschaffen, zumindest in ihrem Bestand auf die Zustimmung ihrer Teilnehmer angewiesen, einschließlich derjenigen, die von ihnen benachteiligt werden.
Während es hart und unfair erscheinen mag, die Unterdrückten und Benachteiligten, und sei es nur zum Teil, für ihre Lage selbst verantwortlich zu machen, beinhaltet Rousseaus Ansicht auch, dass die Macht, diesen Zustand zu ändern, zumindest teilweise in ihrer Hand liegt. Wäre soziale Ungleichheit nicht etwas, an dessen Bestand die Benachteiligten mitwirken, wäre es viel schwieriger zu erkennen, wie sie diese Situation je überwinden können. Zudem schwingt in Rousseaus Auffassung mit, dass die Philosophie, fasst man sie weit, eine wichtige Rolle beim fortschrittlichen sozialen Wandel spielt. Denn eine Philosophie, die unseren Glauben an die Legitimität bestimmter Ungleichheiten zurückweist, untergräbt damit zum Teil die Grundlagen, auf denen diese Ungleichheiten beruhen. Und eben das ist eines der Hauptziele des Zweiten Diskurses bei seiner Untersuchung über »den Ursprung und die Grundlagen (fondements) der Ungleichheit«.13
Welche Bedeutung die Meinungsabhängigkeit der sozialen Ungleichheit für Rousseaus Unterfangen im Zweiten Diskurs hat, ist unmöglich zu überschätzen. So hat sie zum Beispiel tiefgreifende Folgen für das, was er meint finden zu müssen, um den Ursprung der sozialen Ungleichheit aufzudecken. Wenn Rousseau sich selbst die Frage stellt: »Um was handelt es sich also näher in dieser Abhandlung?«, dann gibt er die potentiell irreführende Antwort: »Um die Kennzeichnung des Augenblicks im Verlauf der Entwicklung der Dinge, in dem das Recht die Gewalt ablöste und mithin die Natur dem Gesetz unterworfen wurde« (DU, 78 f. / OC III, 132).14 Der entscheidende Gegensatz in dieser Antwort ist der zwischen reinen Naturgeschöpfen – für die Gewalt die Regel ist – einerseits und moralisch oder nach Normen sich richtenden Geschöpfen andererseits. Diese werden von Recht und Gesetz regiert oder, besser gesagt, vom Gesetz und ihren Vorstellungen davon, was Recht ist.15 Dieser dunklen, aber wichtigen Aussage liegt im Kern folgende These zugrunde: Der Schlüssel zum Verständnis der Frage, woher die soziale Ungleichheit kommt, findet sich in der Erklärung, wie es möglich ist, dass Meinungen über das Recht, begriffen als Gegensatz zur reinen Natur, eine so zentrale Rolle in den menschlichen Angelegenheiten annehmen können. Wenn menschliche Gesellschaften sich typischerweise durch soziale Ungleichheiten allerlei Art auszeichnen – die ihrerseits von den Meinungen oder der Zustimmung ihrer Glieder abhängen –, dann müssen Menschen solche Geschöpfe sein, die ihre Meinungen (ihre normativen Überzeugungen davon, was an den Dingen gut und rechtmäßig ist) und nicht ihre bloße Natur über ihr Verhalten und ihre Lebensweise bestimmen lassen. Rousseaus Frage über den Ursprung der Ungleichheit kann daher folgendermaßen neu formuliert werden: Wie müssen Menschen beschaffen sein, wenn auf Meinungen beruhende soziale Ungleichheiten einen so herausragenden Stellenwert in ihrem Leben annehmen sollen? Unter der Annahme, dass wir ihn bisher richtig verstanden haben, wird es nicht weiter erstaunen, dass Rousseau glaubt, seine Antwort auf die Frage über den Ursprung der sozialen Ungleichheit hänge davon ab, einige der grundlegenden Eigenschaften der Menschen zutage zu fördern, die sowohl durch die Unterscheidung zwischen dem Menschlichen und dem rein Natürlichen gekennzeichnet sind als auch die Fähigkeit von Meinungen erklären, die menschlichen Angelegenheiten zu regeln. Im zweiten Teil des Zweiten Diskurses, dort, wo die Naturgeschöpfe des ersten Teils uns zum ersten Mal als echt menschliche Wesen begegnen, wird Rousseau in seine Darstellung genau einen solchen Faktor einführen – die Leidenschaft des amour propre – und sie liefert, wie wir mittlerweile erwarten sollten, das Kernstück seiner Beantwortung der Frage, woher die soziale Ungleichheit stammt.
Und schlussendlich hilft uns das Verständnis der Rousseau’schen Unterscheidung zwischen natürlichen und sozialen Ungleichheiten deutlich zu machen, warum er seine Aufmerksamkeit im Zweiten Diskurs auf diese beschränkt. Der offensichtlichste Grund dafür ist der, dass die beiden Hauptfragen des Zweiten Diskurses sich prompt beantworten lassen, wenn sie natürliche Ungleichheiten in den Blick nehmen: Sie entspringen selbstverständlich der Natur (DU, 77/67, OC III, 131) und sind daher durch das Gesetz der Natur autorisiert oder zumindest nicht durch es verurteilt. Vermutlich ist es präziser zu sagen, im Fall der natürlichen Ungleichheiten erhebt sich erst gar nicht die Frage danach, was sie autorisiert – ob sie legitim oder zulässig sind. Es scheint wahrscheinlich, dass Rousseau glaubt, es sei sinnvoll, die zweite, die normative Frage nur im Hinblick auf künstliche Phänomene zu stellen, auf solche, die von menschlichem Handeln (und menschlicher Freiheit) in dem oben formulierten Sinn abhängen. Im Falle natürlicher Phänomene ergeben sich keine Fragen der Legitimität oder der Kritik. Es mag bedauerlich sein, dass die Natur den einen mehr Körperkraft, eine schönere Stimme oder ein liebenswürdigeres Naturell verliehen hat als den anderen, doch sind diese Unterschiede – im Gegensatz zu dem, was die menschlichen Gesellschaften aus ihnen machen – an sich nicht ungerecht, illegitim oder ein geeigneter Gegenstand der moralischen Kritik. Für Rousseau ist das Wirken der Natur (das heißt Gottes) kein passender Adressat für eine normative Bewertung und Kritik, wohl aber ist es das unsrige – und das heißt, die Zustände, für die wir verantwortlich sind. Man darf jedoch keinesfalls das Ausmaß überschätzen, in dem Rousseau zufolge die Wirkungen der Natur dem Geltungsbereich normativer Kritik entrückt sind. Die bloße Tatsache, dass jemand blind geboren ist, während andere mit perfektem Sehsinn auf die Welt kommen, ist für Rousseau keine Form der Ungerechtigkeit oder irgendeine andere Art moralischen Gebrechens. Wie dieser natürliche Unterschied aber letzten Endes das Leben der Betroffenen beeinträchtigt, ist nicht bloß eine Folge der natürlichen Umstände. Da soziale Praktiken und Institutionen beträchtlich zur Ausgestaltung der Folgen beitragen, die natürliche Ungleichheiten für das Leben der von ihnen Benachteiligten haben, gehen diese Folgen in nicht geringem Maße auf unser eigenes Handeln zurück – wir und nicht die Natur sind für sie verantwortlich – und daher sind sie ein angemessenes Thema für die normative Frage des Zweiten Diskurses. Natürliche Blindheit ist nicht an sich eine Ungerechtigkeit, doch der Umstand, dass Blinde in einigen Gesellschaften kaum Zugang zu Bildungseinrichtungen oder öffentlichen Verkehrsmitteln haben, kann in der Tat ungerecht (und ein legitimer Gegenstand der Kritik) sein, denn dabei handelt es sich um soziale, nicht bloß natürliche Folgen von Blindheit, und die zu ändern, steht in unserer Macht.
Damit ist ein weiterer Grund genannt, warum der Zweite Diskurs sich ausschließlich mit sozialen Ungleichheiten beschäftigt: Es gehört zu Rousseaus grundlegenden Überzeugungen