abhängen oder sie betreffen. Diese atomistische Ansicht ist für Rousseaus Vorstellung des Naturzustands so grundlegend, dass sich seine Auffassung von der ursprünglichen Natur des Menschen auch als der Versuch kennzeichnen lässt, diejenigen basalen Anlagen und Fähigkeiten festzuhalten, die jedem Menschen qua Individuum von der Natur ungeachtet aller Beziehungen, die sie zu anderen Menschen möglicherweise haben, verliehen worden sind. Anders formuliert, wenn Rousseau der ursprünglichen Natur des Menschen amour de soi-même, Mitleid, Vervollkommnung und einen freien Willen zuspricht, dann behauptet er damit, dass es sich dabei um Merkmale des Menschen handelt, die im Prinzip dem Einzelnen für sich genommen zukommen, also selbst dann, wenn er außerhalb einer Gesellschaft lebt (unbeschadet der Tatsache, dass Menschen niemals in einem so isolierten Zustand existiert haben). Statt Rousseaus individualistische Auffassung in Bausch und Bogen zu verwerfen, lohnt sich der Versuch zu verstehen, warum Rousseau so vorgeht, wobei man stets bedenken muss, und das tue ich hier, dass er letztlich nicht dem Irrtum aufsitzt, den ihm sehr viele Leser vorhalten, dass er nämlich alles, was zu unserer sozialen Existenz gehört, für etwas hält, das unserer »wahren« Natur – im normativen Sinn – äußerlich ist.
Eine Möglichkeit, Rousseaus individualistische Auffassung unseres Naturzustands zu verstehen, ist die, darin den Versuch zu sehen, das stoische Prinzip der Geselligkeit außer Acht zu lassen (DU, 73 / OC III, 126), das frühere Naturrechtstheoretiker, insbesondere Grotius und Barbeyrac, in ihr Bild von der Natur des Menschen aufgenommen haben. Diese Denker begreifen die Geselligkeit als eine angeborene Empfindung, die allen Menschen eigen ist und sie geneigt macht, sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern, gleichgültig in welcher Beziehung es zu ihrem eigenen Wohl steht, und die sie aus mehr als nur zweckdienlichen Gründen die verschiedensten sozialen Beziehungen eingehen lässt. Rousseaus Hauptgrund für die Ablehnung der Geselligkeit scheint der zu sein, dass sie in den Bereich der Natur zu viel Soziales einschließt und uns so den Blick für die Künstlichkeit, vor allem aber für die Formbarkeit unserer sozialen Institutionen und unseren Wunsch verstellen würde, Bande zu anderen Menschen zu knüpfen. Die Wünsche, die uns dazu antreiben, Familien, Staaten und Wirtschaftsbeziehungen zu gründen, sind für ihn ein Produkt von Kultur und Geschichte. Keinem angeborenen menschlichen Trieb von der Art, wie die Geselligkeit es sein soll, ist eine »natürliche« Blaupause für diese Institutionen abzulesen. Während Rousseaus Haltung zur These von der Geselligkeit vielschichtig ist, würde die Aussage nicht zu weit gehen, dass das, was in seiner Vorstellung von der menschlichen Psychologie an ihre Stelle tritt, die Verbindung von Mitleid, einer »natürlichen« Empfindung, mit dem amour propre, einer »künstlichen« Leidenschaft, ist. Jenes hilft zu erklären, wie Individuen positiv veranlagt sein können, das Wohl – oder die Schmerzlosigkeit – anderer zu wünschen, wohingegen dieser – wie im nächsten Kapitel deutlich werden wird – erklärt, warum zivilisierte Menschen das anhaltende Bedürfnis verspüren, soziale Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen.45
Rousseaus individualistischem Ansatz lässt sich wohl am besten dadurch Sinn verleihen, dass man betrachtet, wie er aus seiner fundamentaleren Absicht folgt, den Menschen in einem vollkommen un-künstlichen Zustand zu charakterisieren. Dabei kommt es vor allem darauf an zu verstehen, warum er das Natürliche – aller Künstlichkeit Freie – der Geselligkeit so weit entrückt. Dieser Verbindung liegt nämlich der Gedanke zugrunde, dass soziale Beziehungen für die Entwicklung und die Ausübung eben der Fähigkeiten, von denen die Künstlichkeit abhängt, unverzichtbar sind und sich davon nicht trennen lassen. Bedenkt man, dass Künstlichkeit sich durch den Eingriff menschlicher, durch Meinungen vermittelter Handlungen auszeichnet, dann geht Künstlichkeit notwendig mit sozialen Beziehungen Hand in Hand, jedenfalls wenn Menschen ihre Fähigkeit zu urteilen nur in Gesellschaft entwickeln und ausüben können. Genau das trifft nach Rousseaus Ansicht zu, denn er glaubt, dass Sprache und Denken – die beiden Voraussetzungen, um Urteile zu fällen und überlegt zu handeln – etwas sind, worüber nur soziale Geschöpfe verfügen können. Zugleich meint er, dauerhafte soziale Beziehungen führten mehr oder weniger automatisch46 dazu, dass sich solche Fähigkeiten wie Sprache und Vernunft entwickeln, welche unvermeidlich Meinungen in die menschlichen Angelegenheiten hineintragen. Seine Auffassung ist mit anderen Worten die, dass es ohne Sprache und Denken keine echte soziale Existenz gibt und dass es umgekehrt für Geschöpfe, die ein so isoliertes Leben führen wie diese fiktiven Bewohner des ursprünglichen Naturzustands, keine Sprache und kein Denken gibt. Aus alldem folgt, dass, um den Menschen zu sehen, »wie ihn die Natur geschaffen hat«, bevor seine »ursprüngliche Beschaffenheit« sich »im Schoß der Gesellschaft« veränderte (DU, 63 f. / OC III, 122), wir ihn notwendigerweise unter Abstraktion von seinen sozialen Beziehungen betrachten müssen.
Doch selbst wenn damit erklärt ist, warum Rousseau das Natürliche mit dem Unsozialen verbindet, ist unsere ursprüngliche Frage nur nach hinten verschoben worden: Wenn Menschen niemals in einer Situation leben, in der sie weder über Sprache noch Denken, noch soziale Beziehungen verfügen, und wenn eine solche Situation – wie wir im 3. Kapitel sehen werden – unvereinbar damit ist, was Rousseau für eine passende menschliche Existenzform hält, warum ist er dann so sehr darauf aus sich vorzustellen, wie die ursprüngliche Natur des Menschen beschaffen ist? Rousseaus umfassende Antwort auf diese Frage ist vielschichtig und sie darzulegen wird uns im Rest dieses Buches über weite Strecken beschäftigen. Doch schon jetzt ist es möglich, einen Teil dieser Antwort zu verstehen. Da die Idee der ursprünglichen Natur des Menschen ein analytischer Kunstgriff ist, der den Beitrag der Natur zu unserem realen Erscheinungsbild von unseren künstlichen Merkmalen – solchen, die den sozialen und historischen Umständen geschuldet sind, und folglich den durch unser Eingriffen in die Welt verursachten – trennen soll, lässt sich die oben gestellte Frage folgendermaßen umformulieren: Warum ist Rousseau so sehr darauf aus sich vorzustellen, was an unserer gegenwärtigen Situation auf die Natur zurückgeht und was unserer eigenen Freiheit entspringt (schließlich sind die Gesellschaft und Geschichte unsere eigenen, wenngleich in der Regel unbeabsichtigten Schöpfungen)? Enthalten ist die Antwort auf diese umformulierte Frage in dem, was bereits über die Bedeutung der Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen für Rousseau gesagt worden ist, dass nämlich damit die Trennlinie zwischen dem, was uns notwendig und unabänderlich von der Natur mitgegeben wurde, und dem, was, da es letztlich von unserer freien Wahl abhängt, zufällig und variabel ist und in dem Sinn bei uns steht, dass wir es im Prinzip durch unser Handeln ändern könnten. In Anbetracht dessen ist es von großer Bedeutung, dass die Anlagen und Fähigkeiten, die Rousseau der ursprünglichen Natur des Menschen zuschreibt, nach Anzahl und Inhalt recht dürftig sind. Denn ein Ziel seiner Darstellung der Natur des Menschen besteht in der Erklärung der nahezu grenzenlosen Vielfalt von Lebensformen, die von historischen und anthropologischen Beobachtungen als Möglichkeiten menschlichen Daseins aufgewiesen worden sind. Doch obwohl Rousseau zu den radikalsten Verfechtern der großen Spannbreite menschlicher Kultur und der Wandelbarkeit unserer ursprünglichen Anlagen zählt, setzt er mit seiner Darstellung der ursprünglichen Natur des Menschen dessen Wandelbarkeit auch sehr breite natürliche Grenzen – Grenzen, die dazu dienen werden, bestimmte Antworten auf Übel, die im 2. Teil des Zweiten Diskurses zur Sprache kommen, als utopisch zu verwerfen und die wichtige normative Folgen für die Verhaltensweisen nach sich ziehen, die wir in Anbetracht der Einschränkungen ihrer ursprünglichen Natur von Menschen erwarten dürfen.
Die Quelle der sozialen Ungleichheiten liegt nicht in der Natur des Menschen
Kommen wir nun auf die Hauptthese zurück, die der ursprüngliche Naturzustand zusammen mit seinem Bild von der Natur des Menschen begründen soll, dass nämlich soziale Ungleichheiten ihre Quelle nicht in der Natur haben. Worauf ich oben bereits hingewiesen habe, besteht ein Teil dieser These in der Behauptung, die ursprüngliche Natur des Menschen allein liefere keine psychologischen Anreize, mit denen sich erklären ließe, warum Menschen ein Motiv haben, die Ungleichheiten anzustreben, die sie tatsächlich schaffen. Anders ausgedrückt: Keine der beiden Arten von Motiven, die sich aus den ursprünglichen Anlagen des Menschen ergeben, macht ihn geneigt oder gibt ihm Gründe, Ungleichheiten anzustreben – es sei denn sehr kurzfristige Vorteile, die unter bestimmten Umständen wünschenswert sind, weil sie einem anderen Zweck dienen. Im Falle von Mitleid liegt das auf der