er nach kurzer Zeit verhielt und den Kopf drehte, um sich zu vergewissern, ob seine Leute die befohlenen Abstände einhielten, waren die schneevermummten Hütten von Lysselkowo kaum mehr zu erkennen.
Der heftige Geschützdonner, der seit Mitternacht von Nordwesten nach Westen gewandert war, hatte nachgelassen. Ein Zeichen, dass die Russen ihre Angriffe eingestellt haben könnten, war das freilich nicht. Auch die Rote Armee vermochte sich nicht leichter Hand über die Härte des Winterkrieges hinwegzusetzen. Die Schwierigkeit, den Nachschub durch tief verschneites Gelände der kämpfenden Truppe zuzuführen, verlangsamte auch drüben die Bewegungen im Verhältnis zur Ausdehnung der Strecken, die zu überwinden waren.
Oberleutnant Mareiner fragte sich, warum man nach den Erfahrungen mit den Rumänen bei Kletzkaja die lebenswichtige Donfront südostwärts Kalitwa nicht mit deutschen Verbänden besetzt hatte. Den Italienern fehlte, allein schon von der mittleren und unteren Führung her, das Vermögen, in windigen Stellungen massierten Angriffen der Russen standzuhalten. Die persönliche Tapferkeit des Einzelnen zählte dabei nicht. Es war eine Frage der Taktik und im Übrigen der Persönlichkeit des jeweiligen Führers, ob man im Stande war, sich in einem Abschnitt zu behaupten, an dem der Feind womöglich links und rechts vorbeigeflutet war. Außerdem waren die Italiener, mit Ausnahme der Alpinisoldaten, für den Krieg im winterlichen Osten weder körperlich geeignet noch geschult.
Als Mareiner den Befehl erhalten hatte, mit seiner Kompanie nach Lysselkowo zu gehen und sich dort einzurichten, war er überzeugt gewesen, dass man eine Ausweitung der russischen Winteroffensive gegen den Abschnitt der 8. italienischen Armee erwartete. Aber mit einem Durchbruch, wie er mutmaßlich mittlerweile eingetreten war, hatte man anscheinend nicht gerechnet.
Das Schneetreiben wurde immer dichter. Der eisige Nordwind verstärkte sich und wurde zum Sturm. Tief geduckt schob Mareiner sich auf seinen Skiern vorwärts, gefolgt von seinen acht Pionieren, die nun näher aufrückten, um einander nicht aus den Augen zu verlieren.
Sie gelangten zu einer Balka, wie sie zu Hunderten die Steppen Südrusslands durchziehen, und da der vom Sturm gepeitschte, dicht fallende Schnee jegliche Sicht verwehrte und infolgedessen die Gefahr bestand, dass der kleine Spähtrupp ahnungslos in den Feind rumpelte, beschloss Oberleutnant Mareiner, in der windgeschützten Schlucht abzuwarten, bis der Schneesturm sich ausgetobt hatte, was erfahrungsgemäß nicht allzu lange dauern würde.
Als Sicherung gegen unliebsame Überraschungen stellte Mareiner einen Doppelposten an den nordwestlichen Zugang zur Balka.
Sie warteten nur wenige Minuten und rauchten gerade die ersten Züge ihrer mit Mühe angesteckten Zigaretten, als einer der Posten mit der Meldung erschien, eine größere Kolonne von Fußtruppen nähere sich. Mareiner machte seine Maschinenpistole frei und führte seine Leute, die ihre Karabiner schussbereit hielten, zum Ausgang der Balka. Dort übergab er Unteroffizier Perch, einem Landsmann aus dem Inntal, das Kommando und glitt selbst ins Schneetreiben hinaus, um nach Möglichkeit festzustellen, ob die näher kommende Kolonne, die nur schattenhaft zu erkennen war, zur »anderen Feldpostnummer« gehörte.
Hinter einen verschneiten und vereisten Strauch geduckt, beobachtete Mareiner die schwerfällig durch den Schnee stapfenden Gestalten, die wie gespenstische Schemen vorbeizogen und es offenbar nicht im Sinn hatten, ebenfalls in der Balka Schutz vor dem Sturm zu suchen.
Auf einmal vernahm er einen schwachen Kommandoruf, der vermutlich italienisch, keinesfalls jedoch russisch war. Einer plötzlichen Eingebung folgend brüllte er: »Evviva Italia – evviva Italia!«
Im nächsten Augenblick löste sich die Ordnung der Kolonne auf. Soldaten in dunkelgrauen Mänteln und den Stahlhelmen des italienischen Heeres stürzten auf den Skiläufer im Schneehemd zu, der hinter dem vereisten Strauch hervorkam, und ungezählte Stimmen sprachen und riefen aufgeregt durcheinander. Das einzige, ständig wiederholte Wort, das Mareiner verstand, war: »Tedesco«.
Mit eifrigem Kopfnicken und »si, si, si« bestätigte er, dass er Deutscher sei, und steigerte damit die Aufregung der Italiener so gewaltig, dass diese einander nur noch überschrien. Bis schließlich von der Spitze der Kolonne ein Offizier herankam, mit scharfer Stimme Ruhe gebot und sich dem »Tedesco« gegenüber als Tenente Giuseppe Favere bekannt machte.
»Hoch erfreut«, sagte Mareiner und nannte seinerseits Dienstrang und Namen.
»Ich bin glücklich, Herr Kamerad«, sagte Leutnant Favere in gut verständlichem Deutsch. »Der Himmel schickt Sie uns. Aber – per Dio – Sie sind doch nicht auch versprengt wie wir?«
Mareiner verneinte lachend.
»Ich bin auf Erkundung«, sagte er, »aber von Ihnen kann ich sicher erfahren, was bei Ihnen passiert ist. Wir sind seit gestern ohne jede Verbindung.«
»Das glaube ich wohl«, entgegnete der italienische Leutnant. »Es ist bei mir nicht anders. Der Russe ist durchgebrochen. Mehr weiß ich auch nicht. Ich habe mit meiner Kompanie meine Stellung geräumt, als sie nicht mehr zu halten war. Wir sind unterwegs in starkes Artilleriefeuer geraten und später von russischen Reitern angegriffen worden. Meine Verluste waren sehr hoch, Herr Kamerad. Zuletzt habe ich im Schneesturm die Richtung verloren.«
»Welches Bataillon?«, schrie Oberleutnant Mareiner. Das Tosen des Sturms schwoll plötzlich so sehr an, dass es einem förmlich die Worte vom Mund wegriss. Doch Leutnant Favere hatte verstanden.
»Bataillon ›Derrutti‹ – stellvertretender Bataillonsführer Capitano Berti«, gab er ebenso lautstark zurück.
»Was ist mit Fendt? Wo ist er?«, fragte Mareiner. »Der deutsche Wachtmeister Fendt. Er war unterwegs zu Ihrem Bataillon.«
Der Italiener antwortete mit einer hilflosen Geste.
»Ich weiß nichts von einem deutschen Wachtmeister.«
»Wohin wollen Sie mit Ihren Leuten?«, fragte Mareiner, beunruhigt durch das sichere Gefühl, sich nicht länger aufhalten zu dürfen.
»Kein Befehl«, erwiderte Favere.
»Wir bringen Sie erst einmal nach Lysselkowo«, sagte Mareiner. »Rufen Sie Ihre Kompanie zusammen. Ich hole nur rasch meine Leute.«
Er drehte seine Skier um und lief mit langen Gleitschritten zur Balka.
»Wir kehren um«, rief er den Pionieren zu. »Es sind Italiener – eine versprengte Kompanie. Perch, Sie übernehmen mit zwei Mann die Führung. Die anderen kommen mit mir.«
Die Kolonne der Italiener tauchte im Flockenwirbel auf. Man hörte die anfeuernden Avanti-Rufe des Offiziers. Unter den Soldaten, von denen manche nicht einmal mehr ihre Gewehre bei sich hatten, waren auch mehrere Verwundete. Einige wurden von Kameraden gestützt.
Als Mareiner Favere erblickte, rief er ihm zu, er solle den drei Mann auf Skiern folgen. Er selbst werde sich mit dem Rest seiner Leute an den Schluss der Kolonne setzen, um dafür zu sorgen, dass niemand zurückbleibe.
Die grauen Schemen zogen dicht aufgeschlossen vorbei. Nach Mareiners Schätzung waren es etwa siebzig Mann. Wenn die Kompanie bei Beginn des russischen Angriffs ihre volle Kriegsstärke gehabt hatte, mochte Favere die Hälfte seiner Männer verloren haben.
»Die müssen ganz hübsch Federn gelassen haben«, bemerkte einer der Pioniere. »Sind halt Spagettifresser.«
»Halt die Luft an, Franz!«, versetzte Mareiner scharf. »Meinst du, ihr seht besser aus, wenn euch der Iwan die Stellung unter dem Sitzfleisch wegschießt?«
Er wartete, bis die letzten Italiener – eine Gruppe humpelnder Nachzügler, die offenbar erfrorene Füße hatten – vorbei waren. Dann schloss er sich mit seinen Pionieren an.
Im Grunde war Mareiner jetzt vollkommen im Bilde. Wenn der Feind die Gegend bereits mit Reiterspitzen unsicher machte, war es nicht ratsam, die Erkundung noch weiter vorzutreiben. Den Reitertrupps folgten zumeist Panzer mit aufgesessener Infanterie. Auch nach dem Erdrutsch bei Kletzkaja war es so gewesen. Fraglich war nur, was aus den Italienern werden sollte, wenn sie glücklich nach Lysselkowo gelangten. Doch das zu entscheiden, war Sache des Ortskommandanten Hauptmann Martin. Zur Stunde war nur eines wichtig: man besaß die Gewissheit,