Pflicht.« (In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, Jg. 5 (1966), H. 17, S. 1800)
25 Heiko Maas, »Held und Helfer in Zeiten des Terrors«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26.4.2015, Nr. 17, S. 11.
26 Fritz Bauer, »Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart«, in: Vorgänge. Eine kulturpolitische Korrespondenz, Jg. 7 (1968), H. 8–9, S. 291.
27 Bauer, »Im Namen des Volkes«¸ S. 314.
FRITZ BAUER ZUM ZWECK DER NS-PROZESSE
Mithilfe der Strafjustiz, durch Prozesse gegen NS-Verbrecher, wollte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903–1968) einen Beitrag zur politischen Aufklärung und Bewusstseinsbildung, zur Wissensvermittlung und Reeducation in der Bundesrepublik Deutschland leisten. Bauer ging es dabei weniger um die Vergangenheit als um die bundesdeutsche Gegenwart und Zukunft. In einer Zeit grassierender Schlussstrichmentalität tat er sich mit seinem Vorhaben freilich recht schwer. Um zu begründen, warum Verfahren gegen NS-Täter circa 20 Jahre nach der Tat noch zu führen seien, verwies Bauer nicht allein auf das Legalitätsprinzip, wenn er einer wenig ahndungswilligen Justiz und einer abgeneigten Öffentlichkeit Anfang der 1960er Jahre eine Antwort auf die viel gestellte Frage zu geben versuchte. Das deutsche Recht transzendierend war Bauer der Auffassung, die von ihm geltend gemachte »Opportunitätsmaxime«1 stelle keinesfalls einen Rechtsverstoß dar, Nützlichkeitserwägungen seien im Fall der präzedenzlosen NS-Verbrechen durchaus legitim.
Bereits vor dem herbeigesehnten Sieg über Nazi-Deutschland stellte der Exilant Bauer volkspädagogische Überlegungen an, wie Hitlers Gefolgsleute, die gleichsam aus der zivilisierten Welt gefallen waren, wieder in die Menschengemeinschaft zurückzuführen seien. In seinem in Schweden verfassten Werk Die Kriegsverbrecher vor Gericht legte er – durchaus im Stile eines Praeceptor Germaniae – mit Entschiedenheit dar: »Das deutsche Volk braucht eine Lektion im geltenden Völkerrecht. […] Die Prozesse gegen die Kriegsverbrecher können Wegweiser sein und Brücken schlagen über die vom National-Sozialismus unerhört verbreiterte Kluft«2 zwischen den Deutschen und den Völkern, die unter dem NS-Regime gelitten hatten beziehungsweise am opferreichen Krieg gegen Hitler-Deutschland beteiligt gewesen waren. Die Prozesse »können und müssen dem deutschen Volk die Augen öffnen für das, was geschehen ist[,] und ihm einprägen[,] wie man sich zu benehmen hat«.3
Bauer brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, »das deutsche Volk« werde aus Einsicht in die eigene so überaus desolate moralische Verfassung nach dem verschuldeten und verlorenen Krieg und angesichts der verübten Massenverbrechen »das Schwert des Krieges mit dem Schwert der Gerechtigkeit«4 vertauschen. Mit der ihm eigenen Emphase meinte der Patriot Bauer: »Ein ehrliches deutsches ›J’accuse‹ würde das ›eigne Nest nicht beschmutzen‹ (es ist schon beschmutzt und die Solidarität mit den Verbrechern würde es noch mehr beschmutzen). Es wäre ganz im Gegenteil das Bekenntnis zu einer neuen deutschen Welt«, einem – und Bauer zitiert Johann Gottlieb Fichte – »wahrhafte[n] Reich des Rechts«, das sich auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gründet.5
In Strafverfahren gegen NS-Täter ging es Bauer erklärtermaßen nicht um Tatsühne und Schuldvergeltung.6 Zweck der Strafprozesse war vielmehr, Lernprozesse bei den Deutschen anzustoßen, der Selbstaufklärung zu dienen, den Deutschen einen »historischen, rechtlichen und moralischen Unterricht«7 zu erteilen. Die Verfahren sollten auf die vom Nazismus infizierten Deutschen einwirken, gegen totalitäre Anfechtungen immunisieren, für den Kampf um die Menschenrechte sensibilisieren, Zivilcourage lehren. Im Glauben an die Erziehbarkeit des Menschen (Bauer stand ganz und gar in der Tradition von Lessing und Schiller), in der Hoffnung auf Ein- und Umkehr der Deutschen, hatten die Prozesse – selbstverständlich streng nach Recht und Gesetz, aber auch öffentlichkeits- und medienwirksam durchgeführt – den Deutschen »Schule«8 und »Unterrichtsstunde«9 zu sein. Notwendige »Lehren«10 hatten die Deutschen zu ziehen, sollte dem (west-)deutschen Volk, dem die Sieger (und Befreier) eine noch instabile Demokratie beschert hatten, eine Zukunft in Freiheit und Frieden beschieden sein. Bauers Vorhaben gründete sowohl auf seiner schonungslosen Analyse des Naziregimes und dessen in der Bundesrepublik sich wiederfindenden Anhängerschaft als auch auf der ihn quälenden Sorge um Deutschlands Gegenwart und Zukunft.
Bauers Diagnose
Nach Bauers tiefster Überzeugung gab es »in Deutschland nicht nur den Nazi Hitler und nicht nur den Nazi Himmler. Es gab Hunderttausende, Millionen anderer, die das, was geschehen ist, nicht nur durchgeführt haben, weil es befohlen, sondern weil es ihre eigene Weltanschauung war, zu der sie sich aus freien Stücken bekannt haben. Und die Mehrzahl der SS war nicht bei der SS, weil sie gezwungen war, sondern sie war bei der SS, und sie war bei der Wachmannschaft im Lager Auschwitz und in Treblinka und Ma[j]danek, und die Gestapo war in aller Regel bei den Einsatztruppen [sic], weil die Leute ihren eigenen Nationalsozialismus verwirklichten.«11 Die Deutschen waren für Bauer mithin kein verführtes und irregeleitetes, kein verantwortungsfreies und entschuldigtes Volk. Ihm zufolge war der Nazismus »eine Bewegung im deutschen Volke«12 gewesen, möglich geworden durch Obrigkeitsdenken, Untertanengesinnung, Jasagertum, Kasernenhofmentalität, Gesetzesfrömmigkeit, Staatsvergottung und Machtverherrlichung. Die in den NS-Verbrechen zum Ausdruck gekommenen Einstellungen, Denkweisen und Geistesverfassungen, für Bauer die unbedingt auszureißenden »Wurzeln« des Nationalsozialismus, reichten weit in die Geschichte zurück. Moral und Humanität, Freiheit und Autonomie, Selbstverantwortung und Gewissen waren den Deutschen, die nach Bauer einen verhängnisvollen Sonderweg eingeschlagen hatten, abhanden gekommen. Nicht der Mensch als Ebenbild Gottes – so der bibelfeste Justizjurist – stand im Fokus des Handelns der Deutschen, sondern die seelenlose Sache. Nicht die Menschenwürde war handlungsleitend, Sachanbetung13 bestimmte vielmehr ihr Tun und Lassen. Toleranz, Zivilcourage, Widerständigkeit, Grundrechtssensibilität, Mitmenschlichkeit, Solidarität, Mitleid, Brüderlichkeit und Nächstenliebe galt es sich anzueignen, zu erlernen. Aus seiner Deutung des Nazismus und der konstatierten, aus geteilten Überzeugungen sich konstituierenden Gefolgschaftstreue der Volksgenossen schloss Bauer, die Deutschen seien in strafrechtlicher und tatsächlicher Hinsicht alles andere als ein Volk von Gehilfen gewesen.
Die in NS-Prozessen häufig thematisierte Frage, ob bei den Angeklagten Täterschaft oder Teilnahme vorliege, war nach den Ergebnissen von Bauers Ursachenforschung eindeutig zu beantworten. Die Tatbeteiligten in den Konzentrations- und Vernichtungslagern und die Angehörigen der Einsatzgruppen waren ihm zufolge allesamt eifrige, gläubige Nazis gewesen, hatten sich Hitlers Überzeugungen zu eigen gemacht, den Mord an den europäischen Juden als eigene Tat gewollt, ließen sich mithin strafrechtlich durchweg als Mittäter qualifizieren.14
Bauer entwickelte eine eigene Völkermord-Tätertypologie, die er in mehreren Texten darlegte. Insgesamt fünf Tätertypen machte er aus: Neben den »Fanatikern« und »Gläubigen«, die die Ideologeme der verbrecherischen Staatsführung teilten, unterschied er die »Formalisten« und »Blindgehorsamen«, für die Gesetz Gesetz sowie Befehl Befehl seien, ungeachtet der Frage, ob nicht durch die befohlene Tatausführung übergesetzliche Normen verletzt, menschenrechtswidrige Handlungen ausgeführt, gesetzliches Unrecht praktiziert werden. Weiter führte Bauer als dritte Gruppe die »Nutznießer« und »Opportunisten« an, denen Ideologie und Weltanschauung gleichgültig, das persönliche Fortkommen und die berufliche Karriere hingegen vorrangig seien. Personen, die einer dieser drei Gruppen zuzuordnen waren, erachtete Bauer als Täter bzw. Mittäter. Hinsichtlich der Gruppe der »missbrauchten Werkzeuge«, die unter Befehlszwang und in Befehlsnot handelten, und der fünften Gruppe, der »Mitläufer« und »Zuschauer«, legte Bauer weniger strenge Maßstäbe an. Die befehlsabhängigen Handlanger, die bloßen Instrumente der verbrecherischen Politik, qualifizierte er als Tatbeteiligte, bei denen Milderungsgründe ins Feld zu führen waren. Die Mitglieder der fünften Gruppe waren Bauer zufolge mehr als 15 Jahre nach der Tat strafrechtlich nicht mehr zu belangen.15