Unda Hörner

Kafka und Felice


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ist. Darum bitte ich Sie sehr, ihn auf eine Art darauf aufmerksam zu machen und ihn befragen wie er lebt, was er isst, wie viel Mahlzeiten er nimmt, überhaupt seine Tageseintheilung. Jedoch darf er keine Ahnung haben, dass ich Ihnen geschrieben habe überhaupt nichts davon erfahren, dass ich um seine Correspondenz mit Ihnen weiß. Sollte es in Ihrer Macht stehen, seine Lebensweise zu ändern, würden Sie mich zum großen Dank verpflichten und zur glücklichsten machen.« Da schlug ein besorgtes Mutterherz. Julie Kafka sah nachts die Lampe im Zimmer ihres Sohnes brennen, aber tagsüber kam er kaum aus dem Bett. Er war ein schlechter Esser, magerte ab und wurde immer blasser. Schließlich wäre ein regelmäßiger Lebenswandel auch ganz in Felices Sinn, hinsichtlich einer gemeinsamen Zukunft mit Franz. Konnte Felice der Frau lange böse sein?

      Als brave Schwiegertochter in spe erfüllte sie Julie Kafkas Bitte. Acht Stunden Schlaf, riet sie Franz, weniger sei der Gesundheit abträglich. »Halte Maß! Behalte das Ziel im Auge! Ist es Dir nicht möglich, Dein literarisches Schaffen auf zwei, drei Stunden täglich zu beschränken?« Welch absurder Vorschlag für einen wie Franz! Wahrscheinlich brauchte er an manchen Tagen schon ein bis zwei Stunden, um die Wortbrocken in seinem Kopf zu ordnen und überhaupt einen einzigen Satz zu formulieren, der ihn zufriedenstellte. Er hatte es ihr doch beschrieben, und von Max wusste sie, dass diese Literaten sich einen Dreck um den Feierabend scherten, die kriegten schlechte Laune, wenn man sie nicht schreiben ließ, sobald ihnen Sätze kamen. Trotzdem warf sie den Brief an Julie Kafka noch am selben Tag ein.

      Die Verschwörung der Frauen blieb Franz nicht lange verborgen. Denn in einem Brief an Max Brod entschlüpfte Felice die Frage, ob Franz seine Post denn nicht an sicherem Orte aufbewahre. Der konnte eins und eins zusammenzählen: »Ich nahm Deine heutigen Briefe als ein Ganzes und Deine Ratschläge betreffend das Essen und den Schlaf verblüfften mich nicht besonders, was sie doch eigentlich hätten tun müssen, da ich Dir doch schon geschrieben hatte, wie froh ich bin, die gegenwärtige Lebensweise gefunden zu haben, welche die einzige halbwegs befriedigende Lösung der Widersprüche ist, in denen ich leben muss. Als mir aber Max heute eine auch nur ganz zarte Andeutung machte, wegen der Aufbewahrung von Briefen und wie seine Sachen vor den Eltern niemals sicher sind – seines Vaters Suchen und Forschen in allen Zimmerecken ist mir geradezu schon aus der Anschauung bekannt – da liefen mir mit diesen Bemerkungen alle zugehörigen Bemerkungen aus Deinen heutigen Briefen zusammen, denn Deine Briefe waren mir wie immer so auch diesmal so gegenwärtig wie der Gesichtsausdruck des Menschen, mit dem ich spreche – und ich wusste bald nicht alles zwar, aber genug, um Max zu zwingen, alles zu sagen.« Franz machte Felice keine Vorwürfe, er fing an, sich für seine kleine Schlamperei zu rechtfertigen: »Natürlich trage ich jetzt nicht alle Briefe bei mir herum wie in jenen ersten armseligen Zeiten, aber den letzten oder die zwei letzten noch immerhin. Ich trage zuhause einen anderen Rock und hänge den Rock des Straßenanzuges an den Kleiderrechen in meinem Zimmer. Die Mutter gieng durch mein Zimmer, als ich gerade nicht darin war – mein Zimmer ist ein Durchgangszimmer oder besser eine Verbindungsstraße zwischen dem Wohnzimmer und dem Schlafzimmer der Eltern – sah den Brief aus der Brusttasche schimmern, zog ihn mit der Zudringlichkeit der Liebe heraus, las ihn und schrieb Dir.« Franz hatte seine Mutter daraufhin zur Rede gestellt. Sie war nicht nur in sein Zimmer, sondern in einen verbotenen Raum eingebrochen, wo sie nichts zu suchen hatte. Franz versprach Felice hoch und heilig, in Zukunft besser achtzugeben. Konnte Felice sich darauf verlassen?

      Über Erna also weiterhin kein Wort. Die konspirative Geschichte mussten die Schwestern allein zu Ende bringen. Womöglich servierte Felice Franz mit Ernas Dilemma ein gefundenes Fressen, Stoff, den er in neue Prosa verwandeln konnte. Wenn er nun Weihnachten nach Berlin käme, im engen Familienkreis in der guten Stube säße, hätte Felice zwei Möglichkeiten: ihn vorher einweihen oder nicht. Im ersten Fall wäre er gezwungen, sich angestrengt auf die Zunge zu beißen und das Versteckspiel mitzumachen – entschieden zu viel verlangt für einen Antrittsbesuch bei künftigen Schwiegereltern, der Franz sicher schon so genug belastete. Im anderen Fall müsste sie ihm direkt ins Gesicht lügen, denn Verschweigen war auch eine Lüge. Das widerstrebte Felice, die am liebsten geradeheraus und eine ehrliche Haut war, zutiefst. Wie eine geballte Faust drückte sich das zermarterte, übermüdete Hirn gegen ihre Schläfen: Die ständigen Kopfschmerzen, unter denen sie seit einiger Zeit litt, bekämpfte sie mit Aspirin und Pyramidon. Als sie einmal mehr beim Arzt im Wartezimmer saß, weil sie ein neues Rezept brauchte, als sie schließlich aufgerufen wurde und ins Behandlungszimmer trat, schaute der Doktor sie aufmunternd an: Na, junge Frau, Sie sehen ja aus wie eine Leiche auf Urlaub! Diese Formulierung entlockte der geplagten Felice spontan ein Lächeln. Sie schrieb Franz noch am Abend, dass der Arzt ihr dazu geraten hatte, sich alle Sorgen frei von der Leber zu reden, und dass sie deshalb in Zukunft keine Geheimnisse mehr vor ihm haben wolle. Doch um welche Geheimnisse es sich handle, das verschwieg sie Franz weiterhin. Schön dumm. Jetzt wollte er erst recht wissen, was sich hinter ihren kryptischen Bemerkungen verbarg. »Bald wird die Bombe platzen«, vertröstete sie ihn. Und gab Franz damit noch mehr Rätsel auf.

      Weihnachten stand unmittelbar vor der Tür, und der Brief, den Felice von Franz bekam, enthielt die enttäuschenden, gleichwohl von ihr selbst heraufbeschworenen Worte: »Meine Weihnachtsreise ist noch zweifelhafter geworden.« Franz’ Schwester Valli heiratete am ersten Feiertag, schon deshalb war er unabkömmlich. Also Besuchstrubel nicht nur bei den Bauers, sondern auch bei den Kafkas. Vor den Festtagen machte Felice sich mit einem Päckchen auf den Weg zur Post, wo sie Schlange stand mit anderen Weihnachtskunden, die schwer an ihren Geschenken trugen. Das Päckchen enthielt ihre Gabe an Franz, ein Täschchen, darin ihr Foto, eines, auf dem sie sich einigermaßen gut getroffen fand, mit festem, offenem Blick. Als sie endlich an die Reihe kam, das Päckchen über die Theke schob und der Schalterbeamte es mit einer Briefmarke versah, als das Päckchen in einem großen schwarzen Kasten verschwand, den ein grau gewandeter Diener in einen fensterlosen Raum am Ende eines Ganges beförderte, schien Felice eine gemeinsame Zukunft mit Franz in unendliche Ferne gerückt. Auf dem Rückweg von der Post liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Tränen waren Felices einziges Ventil. Sie flossen auf offener Straße, im Büro, in der Elektrischen. Sie kamen Felice unvermittelt am Esstisch und abends beim Handarbeiten. Sie stahl sich in ihr Zimmer, bevor die Mutter aus der Küche hereinkam und ihr verweintes Gesicht sehen konnte. Die Tränen bahnten sich den Weg in dem Riss, der durch ihr Leben ging. Hier Verantwortungsgefühl, dort Sehnsucht des Herzens. Aber Blut war dicker als Wasser, und die pflichtbewusste Felice hatte dem eigenen Glück die Tür versperrt. Sie musste sich für die Eltern unbedingt noch eine Ausrede überlegen, warum Erna dieses Jahr zu Weihnachten nicht kommen konnte.

      Im Büro war Felice viel unbeschwerter als zu Hause, denn in der Familie herrschte, wie so oft, auch heute eine gespannte Atmosphäre. Nur auf den ersten Blick sah alles friedlich aus, die Mutter und Toni, zwei links, zwei rechts, mit Strickzeug im Wohnzimmer, der Vater zurückgezogen mit Lesestoff im Schlafzimmer. Es war ihm nicht gelungen, seine Ehefrau wieder auszusöhnen, obwohl das, was sie ihm zur Last legte, Schnee von gestern war, die einstige Geliebte. Noch so eine Geschichte, dachte Felice, die ich Franz unmöglich erzählen kann: dass der Vater sich aus dem engen Korsett der jüdischen Mischpoche befreit hatte. Vor elf Jahren war das gewesen, Felice war ein vierzehnjähriges Mädchen und hatte zu vermitteln versucht zwischen dem gutmütigen, lebensfrohen Papa und der strengen, alles überwachenden Mutter, aber er war ausgezogen, zu seiner Geliebten. Seine Kinder hatte er fortan nur noch in Cafés und Restaurants getroffen, Felice fungierte als Geldbotin und überbrachte der Mutter den Unterhalt des Vaters in bar. Nach drei Jahren starb die Geliebte, und Carl Bauer, der die Einsamkeit nicht ertrug, kehrte reumütig zu seiner Familie zurück. Da saß er nun allein im Schlafzimmer, und Anna Bauer war noch immer ein wandelnder Vorwurf. Sie konnte es einfach nicht lassen, giftige Pfeile auf ihren Gatten abzuschießen, ihre Spitzen trafen auch Felice, die dem Vater längst verziehen hatte und kein Hehl aus ihrer Tochterliebe machte.

      Die Ehe ist die einzig gültige Form des Zusammenlebens, sprach die strickende Anna Bauer, als sei das der kategorische Imperativ, und wies mit einer stummen Kopfbewegung auf den dicken Brief, der an Felices Platz auf dem Esszimmertisch lag.

      Felice wagte sich sehr weit vor, als sie die Mutter zaghaft darauf hinwies, dass auch eine Ehe kein Garant für ewiges Glück sei, das müsse sie doch aus eigener Erfahrung wissen.

      Anna Bauer ließ das Strickzeug in den Schoß sinken und bohrte die lange Nadel in