Helge-Ulrike Hyams

Das Alphabet der Kindheit


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mit seinem Eigenwillen hier bereits durch. Tatsächlich berichtet eine große Anzahl von Müttern, dass ihre Kinder schon im Moment der Geburt durch die Art, wie sie ins Leben gekommen sind, ihr Wesen radikal offenbaren.

      Von daher ist es für die Gebärende ein Glück, wenn sie die Chance hat, die Geburt ihres Kindes möglichst wach zu durchleben. Natürlich gibt es Fälle von Komplikationen, die etwa einen Kaiserschnitt notwendig machen, um das Leben des Ungeborenen und der Mutter zu schützen. Doch nicht wenige Frauen entscheiden sich auch ohne zwingende medizinische Indikation zur Narkose und/oder zum Kaiserschnitt, gleichsam als Vorbeugung oder weil man ihnen dazu geraten hat. Sie versuchen damit unbewusst, der Anstrengung der Geburt und der Konfrontation mit den Schmerzen auszuweichen. Dabei liegt gerade im Geburtsschmerz eine tief prägende Erfahrung, die Mutter und Kind verbindet. Der geteilte Schmerz – hier die Mutter, die presst, dort das Kind, das gepresst wird – und die gemeinsame Erlösung hernach ist für viele Frauen eine schwer in Sprache zu fassende Grenzerfahrung.114

      Aber sie wollen darüber sprechen. Mütter haben meist ein intensives Bedürfnis, detailliert über die Geburten der eigenen Kinder zu erzählen. Vielleicht um sich und ihrer Umgebung stets neu zu vergewissern, wie sie und ihr Kind Todesnähe erlebt und überwunden haben.115 Ganz ähnlich wie manche Männer ausschweifend und mit viel Pathos lebensbedrohliche Kriegssituationen schildern, aus denen sie jedoch lebend entkamen.116 Wie oft hat mir meine Mutter berichtet, dass sie in der Nacht meiner Geburt nicht klar wusste, ob sie durch die Sirenen des Fliegeralarms oder durch ihre Wehen aufgeweckt worden war. Wie oft hat sie noch Jahrzehnte danach über ihre Einsamkeit bei meiner Geburt gesprochen. Und ich stehe meiner Mutter in nichts nach, wenn ich immer wieder die Bilder meiner Geburten nachzeichne. Das Reden über Geburt hat eine heilsame, erlösende Funktion. Es hilft zwar nicht vollkommen, das Mysterium der Geburt zu verstehen, aber das Geschehen durch Worte magisch zu beleben tut der Seele gut. Kinder lieben die Geschichten ihrer eigenen Geburt mehr als alle anderen, weil sie eine unersättliche Neugier nach ihrem Geburts-Tag haben, dem Tag, an dem wirklich alles für sie begann.

       Gedichte

       »Dichter wird man als Kind.«

      Marina Zwetajewa

      Heißt es wirklich das Rad der Geschichte zurückzudrehen, wenn man dafür plädiert, dass Kinder auch heute noch Gedichte lernen sollten – und dies am besten auswendig? Es gibt zahlreiche und starke Gründe dafür. Dass sie damit ihre Merkfähigkeit trainieren, ist eher ein vordergründiges, jedoch nicht zu vernachlässigendes Argument. Das Eigentliche aber ist, dass Gedichte wirklich gute Seelennahrung sind. Das Kind kann sie sich ganz einverleiben wie eine Leibspeise. Das Gedicht, einmal auswendig gelernt, gehört dem Kind wie ein kostbarer Besitz, vielleicht bleibt es sogar sein Leben lang verfügbar.

      Joseph von Eichendorff vermag das Kind zu trösten (»Komm Trost der Welt«); Joachim Ringelnatz kann es erheitern (»In Hamburg lebten zwei Ameisen«); Kurt Tucholsky kann ermutigen (»Fahre mit der Eisenbahn, fahre, Junge, fahre!«); Matthias Claudius wiegt in den Schlaf (»So schlafe nun, du Kleine! Was weinest du?«), und Bertolt Brecht bringt das Kind zum Nachdenken über seine gefährdete Existenz (»Was ein Kind gesagt bekommt«). Wenn das Kind Kummer hat, findet es diesen im Gedicht widergespiegelt. Es fühlt sich verstanden und darf sich seinem Schmerz leidenschaftlich hingeben – ohne äußere Kontrolle und ohne sich selbst zu gefährden. Denn eben darin liegt ja die Zauberkraft der Gedichte: dass sich alles Erleben im Inneren des Kindes abspielt – die reale Außenwelt und die Gegenwart anderer Menschen verlieren ihre Macht.

      Aus den Berichten ehemaliger Gefangener in Gefängnissen und Lagern erfahren wir immer wieder davon, dass diejenigen, die Gedichte auswendig sprechen konnten für sich und für die anderen, die Haftzeit innerlich anders durchlebten als die ganz ohne Poesie, als jene, die schutzlos nur der Realität und der brutalen Sprache ihrer Umgebung ausgeliefert waren. Sicher konnten Gedichte nicht konkret Freiheit gewähren, wohl aber ein Gefühl von Freiheit, von Überlebenswillen und ganz sicher von Trost.117

      Es wundert nicht, dass Kinder, sobald sie einmal die Schönheit und die Wirkkraft von Poesie erlebt haben, häufig zum Stift greifen und ihre Empfindungen in Reime bringen wollen. Die frühen Zeugnisse dieser kreativen Impulse sind unendlich kostbar, und Eltern sollten sie, falls die Kinder sie ihnen übergeben, sorgsam verwahren. Aber nicht immer vertrauen Kinder ihre ersten Gedichte den Eltern an, denn damit geben sie ihr Innerstes preis, eben das, was sie oft vor dem Zugriff der Erwachsenen schützen zu müssen glauben. Viele erste Gedichte verschwinden in geheimen Heften, ähnlich wie Tagebücher, streng verborgen vor den Augen der anderen.

      Dabei geht es bei diesen Gedichten niemals um künstlerische Perfektion. Alles ist gut. Alles, was anknüpft an die große Tradition der Menschen, ihre fließende, vergängliche Sprache in eine Form zu bringen, damit sie überdauert. »Gedichte, sprachliche Gebilde, geschaffen aus dem flüchtigsten Material, aus Worten, können die ununterbrochen vergehende Zeit besser überstehen als die prächtigsten Tempel und Paläste«118, schreibt Marcel Reich-Ranicki. Das Gedichte lesende oder schreibende Kind hat diese Idee der Poesie begriffen – es wird zukünftig immer eingebunden sein in diese wunderbare Schöpfung der Menschheit.

       Geheimnis

       »Aber das künftige Kind wird ein Geheimnis uns künden, wenn es im Sternenbettchen spielt.«

      Federico García Lorca

      Der dreizehnjährige Markus hat ein Geheimnis. Jeden Morgen, wenn die anderen Kinder aus seinem Viertel zur Schule gehen, läuft er im Trab einen knappen Kilometer weit bis zu einer Brücke. Er versteckt sich dort ein paar Minuten und rast dann zur Schule, wo er keuchend ankommt. Auf dem Heimweg von der Schule macht er noch einmal denselben Umweg. Neben der Brücke, im Vorgarten eines heruntergekommenen Hauses, ist ein Hund angebunden, der nur drei Beine hat. Diesem Tier bringt Markus unbemerkt von den Hausbewohnern ein paar Brocken zu fressen, meist Stücke von seinem Wurstbrot, von dem er morgens auffallend viel einsteckt. Niemand erfährt davon, keiner darf es wissen.

      Viele Kinder haben Geheimnisse, kleine Pufferzonen, zu denen die Erwachsenen keinen Zugang haben, in denen ihre Gesetze nicht gelten. Markus hört seine Eltern immer wieder von den Kötern reden, die die Straßen besudeln. Wie könnten sie es je gutheißen, dass er dieses kranke Tier zum Freund hat – niemals! Geheimnisse, sagt man, seien Räume der Privatheit; ich gehe weiter und behaupte, sie sind Räume der Freiheit. Sie sind ein gezielter Akt, sich dem Zugriff der Erwachsenen zu entziehen. Sie sind deshalb so kindgemäß, weil sie, ganz ähnlich wie Lügen, keine Form aggressiver Gegengewalt darstellen (zu Recht müssen die Kinder nämlich befürchten, dass sie da unterliegen), sondern eine intelligente Weise, aus dem Regelsystem der Erwachsenen auszuscheren und eigene Wege zu erproben.

      Kinder sind erfinderisch. Manche schaffen ihre geheimen Orte unter dem eigenen Bett oder draußen im Garten, auf dem Hinterhof oder auf einem Baum. Manche haben Freunde (menschliche oder auch tierische, wie eben jener dreibeinige Köter), von denen niemand wissen darf. Und manche schließlich verwickeln sich in Dinge (natürlich auch sexuelle), von denen nie jemand erfährt. Vieles, was einmal nicht machbar erschien, wird – nunmehr in geheimer Aktion – doch machbar. Ein schönes Bespiel dafür findet sich in Erich Kästners Roman Pünktchen und Anton, wo das kleine verwöhnte Mädchen sich abends fortschleicht, um für (s)einen guten Zweck Streichhölzer zu verkaufen.

      Es gibt Menschen, die über ihre gesamte Kindheit bis ins Erwachsenenalter hinein ein so hoch persönliches Geheimnis bewahren, dass sie es erst sehr spät preisgeben.119 In Psychoanalysen nimmt das Wiederentdecken bisweilen einen großen Raum ein. Oft sind die Kindheitsgeheimnisse schambehaftet, und die Befreiung von Scham ermöglicht dann endlich das Aussprechen des Geheimnisses. Auch das Grimmsche Märchen vom Marienkind handelt von solch einem Geheimnis, von dem das Kind sich geschworen hatte, es niemals, niemals über die Lippen zu bringen. Erst auf dem Scheiterhaufen, als das Feuer zu brennen beginnt, verrät die junge Frau ihr Geheimnis und wird – dem Gesetz der Märchen entsprechend – erlöst.