Papa ist schon lange tot.«
»Ist er jetzt im Himmel?«
Oma zögert. »Ich denke schon«, nickt sie.
»Hast du deinen Papa liebgehabt?«
»Ja, sehr.«
»Oma? Bist du traurig?«
Einen Augenblick muss Oma nachdenken, dann nickt sie langsam. »Ja, ich habe es fast vergessen, aber manchmal bin ich immer noch traurig. Weißt du, ich finde es schade, dass er dich gar nicht mehr kennenlernen durfte. Du hättest ihm bestimmt gefallen.«
Eine Weile denken beide an den toten Opa, Uropa, Papa. »Oma, hat dein Papa mit dir gespielt?«
Die Oma ist überrascht. »Nein. Mein Papa hat nie mit mir gespielt.« Na so was, jetzt ist sie schon so alt, aber das ist ihr nie aufgefallen. Sie muss lachen.
»Oma?« Nora schaut sie fragend an.
Aber Oma lacht immer lauter. Jetzt kichert sie.
»Mensch, Oma! Was ist denn so lustig? Das ist doch gemein, wenn dein Papa nie mit dir gespielt hat.«
Oma hört auf zu lachen. »Weißt du, Nora, das war eben anders, als ich klein war. – Mein Papa, der mit mir spielt, das ist einfach zu komisch. Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«
Nora schaut die Oma voller Mitleid an: »Arme Oma!«
Die schluckt. Arme Oma? Hm. »Das war normal. Kein Papa hat mit seinem Kind gespielt. Jedenfalls bei uns im Dorf war das so.«
Noras Augen sind kugelrund. »Nie?«, fragt sie entsetzt. Oma schüttelt den Kopf.
»Nein. Nie.«
»Was habt ihr dann gemacht? Seid ihr schwimmen gegangen? Ins Kino?«
Jetzt kichert die Oma wieder.
»Ins Kino? Nein, es gab bei uns kein Kino, als ich klein war. Und schwimmen?« Oma denkt nach. »Doch, schwimmen waren wir wohl, denn mein Papa hat es mir beigebracht. Und Rad fahren. Im Sommer haben wir versucht, Fische aus dem Bach zu fangen. Und manchmal waren wir im Wald zusammen spazieren. Einmal haben wir im Winter einen Fuchs gesehen. Das war schön.« Oma verstummt. Sie sieht das rote Fell des Fuchses im weißen Schnee leuchten. Ihre Hand in der warmen Hand ihres Papas. Still war es. Und sie haben den Atem angehalten. Oma kommt zurück aus dem verschneiten Wald in das Wohnzimmer, wo Nora an ihrem Arm rüttelt.
»Oma? Ooooomaaa?«
»Entschuldige, Nora. Ich war wohl gerade mit meinem Papa im Wald.«
Nora nickt.
Plötzlich hat Oma eine Idee.
»Wo arbeitet denn dein Papa heute?«, will sie wissen.
Nora zuckt mit den Schultern. Ihr Papa ist Gärtner und jeden Tag irgendwo anders.
Oma greift zum Telefon. Es tutet ein paarmal. Nora kann es hören, dann die Stimme ihres Papas.
»Wo bist du?«, fragt Oma kurz und knapp. Sie hört zu, nickt und sagt wieder kurz und knapp: »Wir kommen!« Dann legt sie auf.
»Komm, Nora. Wir besuchen jetzt den Papa.«
Nora hüpft begeistert vom Stuhl. »Au ja!«
Papa ist ganz in der Nähe. Sie sehen schon von Weitem sein Auto und die Schubkarre. Und dann den Papa, der mit einer Heckenschere vor einer riesigen Hecke steht.
»Papaaaa!« Nora rennt auf ihn zu. Er stutzt einen Augenblick, lässt die Heckenschere sinken und breitet die Arme aus. Oma kommt mit einem Korb dazu. Sie hat Kaffee und Kuchen dabei.
»So, mein Sohn. Jetzt ist erst mal Pause. Hier ist ein kleines Mädchen mit großem Papa-Sehnsuchts-Anfall.« Sie zwinkert beiden zu.
Nora zwinkert zurück und ruft:
»Nein – zwei! Zwei Mädchen. Gell, Oma?«
Oma nickt.
Dann drückt Nora Papa einen Kuss auf die Backe und sagt:
»Papa. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch!«, antwortet Papa.
Und dann essen sie in aller Ruhe Omas Kuchen. Und haben alle Zeit der Welt.
UMZIEHEN
»Mensch, Oma! Ich will aber nicht in das Haus ziehen. Ich will hierbleiben!«
Gerade sind sie in Omas Wohnung angekommen. Oma hat Nora vom Kindergarten abgeholt. Das ganze letzte Jahr über hat Papa die meiste Zeit an diesem Haus gearbeitet und war kaum zu Hause. Damit sie alle: Mama, Papa, Nora und die kleine Schwester Lucy mehr Platz haben. Es ist eng geworden in der alten Wohnung. Und Mama stöhnt manchmal und sagt: »Die Wohnung platzt aus allen Nähten!« Genau weiß Nora nicht, wie Mama das meint. So sehr sie auch schaut und sucht, sie kann nichts Genähtes an den Wänden entdecken.
Die Fahrt vom Kindergarten bis zu Omas Wohnung dauert eine Ewigkeit, findet Nora. Eine halbe Stunde ist keine Ewigkeit, meint Oma, aber es dauert doch ziemlich viele Lieder lang. Denn sie singen auf der Fahrt alle Lieder, die sie kennen, oder bringen sich gegenseitig ein neues bei. Dann dauert die Fahrt nicht so lange.
Bald wird die Fahrerei nicht mehr nötig sein, denn dann wohnen die vier in dem Haus und nah am Kindergarten. Sobald Papa fertig ist, werden sie umziehen.
Umziehen, wegziehen. So genau hat Nora keine Vorstellung, was das bedeutet. Aber so viel weiß sie doch: Es heißt, sie wohnen dann nicht mehr in der Wohnung, in der sie bis jetzt wohnten. In der Wohnung, die sie kennt, seit sie auf der Welt ist und ihre kleine Schwester ebenfalls. Sie werden nicht mehr neben Adele wohnen, ihrer Freundin.
Das ist nur deshalb nicht so schlimm, weil Adele ebenfalls wegzieht.
Aber sie werden auch nicht mehr in der Nähe von Omas Wohnung wohnen. Ausgerechnet jetzt, wo sie den Weg von ihrer Wohnung zu Omas Wohnung so gut kennt.
»Freust du dich denn nicht auf das neue Haus, den Garten, dein schönes Zimmer?«, fragt Oma. Sie zählt alles auf, was schön sein wird. »Schau mal, ihr habt dann ganz viel Platz und einen großen Garten mit Obstbäumen. Du hast es nicht mehr so weit zum Kindergarten und es gibt zwei Zimmer für euch Kinder. Es ist ein schönes Haus geworden. Hat der Papa gut gemacht.« Oma sieht zufrieden aus.
»Jaaa«, sagt Nora gedehnt. »Schon. Aber hier kenne ich alles, und da nicht.«
Das kann Oma gut verstehen. »Ich bin auch nicht so gerne umgezogen. Es ist traurig, wenn etwas Altes zu Ende geht und man sich von vielem verabschieden muss. Zuerst ist alles fremd. Aber jetzt wohne ich sehr gerne in meiner neuen Wohnung.«
Nora nickt. »Ja, Oma, jetzt wohnst du noch viel näher bei uns als vorher.« Dann verfinstert sich ihr Blick. »Aber wenn wir umziehen, dann sind wir sooo weit weg. Wie komm ich dann zu dir?«
Daran muss Oma auch oft denken. »Na ja, aber ihr zieht ja nicht nach Afrika. Ich kann mit dem Auto zu euch fahren. Sogar mit dem Fahrrad.« Sie überlegt, wie lange sie wohl braucht mit dem Fahrrad. Sicher anderthalb Stunden. Oder zwei …
»Au ja, Oma. Dann kommst du, und wir fahren mit dem Fahrrad zu dir.« Jetzt wird’s Oma ein bisschen unbehaglich. Hm. Das ist für Nora wohl doch zu weit.
»Wir schauen mal«, sagt sie vage. Gerade gewöhnt sich Nora an den Gedanken, woanders zu wohnen als Oma, da will sie es nicht gleich wieder verderben.
Nora hat selbst weitergebrütet.
»Aber wenn ich mal ganz dringend zu dir muss, Oma? Und ganz schnell bei dir sein will? Wie finde ich den Weg?«
Die Oma überlegt einen Moment. »Du bist doch bisher auch nie alleine zu mir gekommen. Entweder habe ich dich abgeholt oder Mama hat dich gebracht. Und so wird es dann auch sein.«
Nora