Anne von Canal

Mein Gotland


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      Anne von Canal

      Mein Gotland

      Erzählungen von Wind, Zeit und Einsamkeit

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      © 2020 by mareverlag, Hamburg

      Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag

      Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg

      Datenkonvertierung E-Book Bookwire

      ISBN E-Book: 978-3-86648-387-3

      ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-623-2

       www.mare.de

      Für Arndt

      Gegen die Einsamkeit scheint es kein anderes Mittel zu geben als das Alleinsein.

       John Steinbeck

      Inhalt

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Kapitel 4

       Kapitel 5

       Kapitel 6

       Kapitel 7

       Kapitel 8

       Kapitel 9

       Kapitel 10

       Anmerkungen

       Literatur

       Dank

       Über das Buch

      An einem unbekannten Ort anzukommen, ist wie der erste Kuss mit einem Fremden.

      Die Entdeckung.

      Die erste Berührung der Lippen, rau oder weich, feucht oder fest, spröde?

      Der Atem, die Wärme.

      Der Moment, in dem aus einem Fremden ein Vertrauter wird, lässt sich nicht wiederholen, nicht rückgängig machen, nicht verändern.

      Der erste Kuss ist der eigentliche.

      Gotland küsste mich zum ersten Mal an einem Novembertag. Schneestürmisch und entschieden.

      So ist es zwischen uns geblieben.

      Gotland ist meine Winterinsel.

      Sie ist wild und seltsam, verschwiegen und oft undurchsichtig, aber auch freundlich und großzügig, wie eine kluge Dame, die alles gesehen und nichts versäumt hat, nicht gefallen will und keine Erwartungen erfüllen muss.

      Und manchmal ist sie so still, dass man erschrickt, wenn sie doch plötzlich ihre Stimme erhebt.

      1 Fortuna.

      Hier liegt das Glück verrostet im Meer; verlassen und aufgegeben zerfällt es langsam im Angesicht der Gezeiten, des Windes und der Jahre. Wird täglich kleiner, poröser, durchlässiger und gibt dennoch nicht auf. Noch nicht.

      Fortuna.

      Viel mehr als die Bugspitze ist von dem alten deutschen Frachtschiff nicht übrig, doch die ragt hoch aus den Wellen, hält den Namen eisern über Wasser.

      Ich muss lachen über so viel Symbolhaftigkeit.

      Auf den Rostlöchern im Schiffsstahl pfeift der Novemberwind ein ungestümes Lied, er pflückt die Gischt von den heranrollenden Brechern und trägt sie in wehenden Fahnen davon, zurück aufs Meer. Er war es auch, der mich hergeschoben hat, eine Hand fest in meinem Rücken, über Stein, über Stein, über Stein. Kilometerweite, karge Kalksteinflur. Geh, bis du nicht mehr weiterkannst, geh und sieh dich nicht um!

      Das ist Norsholmen: Außenposten des Außenpostens. Der nördlichste Zipfel Fårös, dieser eigensinnigen Schwesterinsel, die wiederum selbst wie ein Zipfel an der Nordspitze Gotlands hängt. Das ist dort, wo selbst die Heide aufgibt, wo auch die trutzige Geröllebene nicht mehr Land sein mag und sich dem Meer ergibt.

      Keine Seemöwe krächzt am saphirblauen Himmel, und kein verirrtes Schaf ruft; der Kalksteinbruch, den ich auf halbem Weg passiert habe, lärmt schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Hier ist wochen-, vielleicht sogar monatelang niemand mehr gewesen, seit der Sommer und die wenigen Besucher sich in wirtlichere Gefilde verzogen haben.

      Ein Stück weit draußen an der Sandbank, dem Salvorev, brechen sich schwarzblau die Wellen. Ich las, das Riff trage seinen Namen des Passionsgedichts wegen, das schiffbrüchige Matrosen anstimmten, wenn sie dem Tod gottesfürchtig ins Auge sahen und Trost suchten in einem alten, größeren Leiden:

      Salve, caput cruentatum,

      totum spinis coronatum,

      conquassatum, vulneratum,

      arundine verberatum,

      facie sputis illita.

      Rhythmus und Reim. Bangen und Hoffen.

      Oh, Haupt voll Blut und Wunden. Fast höre ich die beschwörenden Stimmen, die, auf Rettung harrend, diese martialischen Worte kreisen lassen wie ein Karussell.

      Mich schaudert.

      Ob die Crew auf der Fortuna ans Beten dachte, in dieser stürmischen Oktobernacht 1969, als sie ihr Schiff verlor?

      Nirgends ein Licht. Windstärke zehn, und die Wellen schlagen über das Vorschiff. Der Kapitän und der Steuermann navigieren durch die dichte Finsternis, wohl kaum mit einem Lied auf den Lippen. Konzentriert starren sie hinaus und erkennen doch zu spät, dass sie in der Bucht Ekeviken in eine gefährliche Sackgasse geraten sind. Alle Versuche, zurück in offenes Gewässer zu kreuzen, scheitern. Krachend läuft die Fortuna auf Grund, nur dreißig Meter vom Ufer entfernt, und sie können nichts tun. Notraketen! Dreißig Stück schießen sie ab. In der Ferne passiert ein Schiff, doch das Dunkel reißt nicht auf. Kein Scheinwerferkegel, der übers Wasser zu ihnen huscht, nicht mal der zuckende Punkt einer Taschenlampe im nahen Uferwald. Sie lassen das Rettungsboot zu Wasser, entschlossen, es auf eigene Faust zu versuchen, ehe das Leck zu groß wird und die Kraft der Wellen sich ungehindert Bahn bricht, doch sie kommen nicht von Bord. Zu wild die Brandung. Es ist kurz vor vier Uhr morgens, als eine Patrouille des Grenzschutzes das Schiff endlich entdeckt, die Küstenwache informiert und den Hubschrauber zur Bergung anfordert.

      In der Zeitung Gotlands Allehanda am nächsten Tag ein Foto der befreiten Crew mit folgender Bildunterschrift: »Die mit dem Helikopter gerettete Besatzung der Fortuna am Kaffeetisch in der Polizeiwache von Visby. Von links: die Köchin Fockra Voss und ihr Mann, Steuermann Walter Ross, Aurich. Der Matrose Käse Hodnstta, Apeldorn, Holland; der befehlshabende Kapitän, Dieter Baschin, Bremen, und der Matrose Nanne Meyer, Emden.«

      Käse Hodnstta? Fockra Voss und Walter Ross? Nanne Meyer?