Anne von Canal

Mein Gotland


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sie denn noch nie nach Spuren ihrer Kindheit gesucht? Hat sie noch nie gedacht, sie könnte etwas aufspüren, das ihr einmal sehr wichtig war? Hat sie noch nie gehofft, im Nachhinein etwas von sich zu begreifen und sich selbst dadurch ein bisschen näherzukommen? Etwas, das ganz am Anfang in ihrem dicken Gedächtnisbuch steht – diese ersten Seiten, die, auch wenn sie nicht mehr so gut lesbar sind, entscheidend waren für die Richtung ihrer Geschichte.

      Ich winke noch ein bisschen weiter. Nicht mehr ihr, sondern der Zeit, dem Haus. Wie die Kinder damals.

      Sie winkten, oder sie standen einfach da; an der Hand ihrer Eltern, mit offenen Mündern, schauten zu, wie die Villa Villekulla sich langsam von der Erde hob; dieses kunterbunte Haus, in dem sie eben noch so viel Spaß hatten, es knackste und quietschte und krachte im Gebälk, als wollte es aufgeben und auseinanderbrechen, zu alt für Abenteuer. Zu müde. Doch es hielt, es schwebte, dreißig Zentimeter über dem Boden vielleicht. Wer bitte hatte so etwas je gesehen? Ein schwebendes Haus?

      Applaus brandete auf, Hurra! Hurra!, als es sich in Bewegung setzte.

      Es begann zu schneien, leise und tanzend, während das Unfassbare passierte: Das Haus zog um.

      Im Schildkrötentempo verließ es seinen Grund, den Ort, an dem es jahrzehntelang gestanden hatte; die Leitungen wie Wurzeln gekappt, nichts hielt es mehr hier.

      Der kluge Geschäftsmann Kronefalk hatte es nach Ende der Dreharbeiten gekauft und vor dem Abriss bewahrt; er hatte andere, größere Pläne.

      Die Lkws und Raupen keuchten unter der Last, die sie schleppten, und alle Zuschauer liefen mit, begleiteten dieses seltsame Ungetüm; zwei Kilometer, drei Kilometer, dann war das Ziel, dann war die Zukunft, dann war der Vergnügungspark Kneippbyn erreicht, wo die Villa Villekulla von nun an zum Erlebnis für jedermann werden sollte. Alle, Groß und Klein, trallallalla, lad ich zu mir ein.

      Ein Riesenkrake erhebt sich aus einem hochpeitschenden Meer, um Schiffe und Menschen zu verschlingen, gleich nebenan reißt eine Schlange ihr Maul so weit auf, dass ganze Achterbahnzüge in ihrem Schlund verschwinden könnten – doch nichts dergleichen passiert. Im Novemberlicht, wenn keine bunten Lampen blinken, keine Musik aus den Lautsprechern gellt und niemand da ist, der sich fressen lassen oder gruseln könnte, niemand außer mir und ein paar Bauarbeitern, dann bleiben die wildesten Tiere zahnlose Sperrholztiger.

      Das Sommerland ist eingewintert.

      Ich gehe durch die Stille der ruhenden Fahrgeschäfte und geschlossenen Attraktionen, und obwohl ich gerade das Morbide und Brüchige so mag, beschleicht mich ein trauriges Wurstelprater- und Reeperbahngefühl: Wie wenig Vergnügen den Dingen selbst anhaftet, wenn kein amüsierwilliger Gast da ist.

      Ich bin zu früh.

      Hüpfend bewege ich mich vor der Rezeption auf und ab, während ich auf Bobbo warte, den König über diese Insel der Kurzweil. Hüpfend überlege ich mir Antworten auf die üblichen Fragen nach meiner Arbeit, eine überzeugende Begründung für mein Ansinnen, mitten im Winter Pippis Haus besichtigen zu müssen. Hüpfend bemerke ich, halb verdeckt von einem hohen Zaun und einem Hamburgerrestaurant im Diner-Stil, die unverkennbare Dachformation von P18. Zweifel macht sich breit.

      Bobbo fährt mit dem Auto vor, reicht mir aus dem Fenster eine warme Hand.

      Mein Herz klopft bang, als er kurz darauf mit einem mächtigen Schlüsselbund das Tor öffnet. Er fragt mich nichts. Wahrscheinlich weiß er auch so, was ich hier suche.

      Sommer. Wochen wie ein einziger endloser Tag, sirrend von dicken schwarzen Brummern und jener süßen Langeweile, die nichts anderes ist als die missverstandene Freiheit, nichts zu tun, unterbrochen allein vom täglichen Betteln ums Kinderferienprogramm, dem ein, höchstens zwei Mal in der Woche – mehr ist ungesund – gnädig nachgegeben wird: Ausnahmsweise. Aber nur ein Film, dann ist Schluss!

      Ich knie auf dem beigefarbenen Teppichboden in unserem Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat.

      Magische Bilderwelt. Alles ist so echt, so nah, so wahrhaftig.

      Die Mattscheibe ist noch schwarz (einen schemenhaften Moment lang sehe ich darin mein Spiegelbild von damals, offene Augen, weite Pupillen, und hinter mir das dunkelgrüne Cordsofa und dahinter den Durchgang ins Esszimmer und darin den Hund), da ertönt ein durchdringender, unverkennbarer Drehleierton. Vier Mal der gleiche, dann setzen gut gelaunte Streicher ein und kurz darauf die hohe Singstimme der kleinen Eva Mattes.

      Zwei mal drei macht vier, widdewiddewidd, und drei macht neune.

      Ich kann noch nicht rechnen, gehe ja noch nicht zur Schule, erst nach dem Sommer, aber ich will, ja, ich widdewiddewill es dringend lernen!

      Ein rotzopfiges Mädchen, das ohne Sattel auf einem ziemlich großen Pferd an einer Stadtmauer entlangreitet, kommt ins Bild. Close-up auf ihr Gesicht. Sie blinzelt neugierig in die Sonne, während dicht neben ihrer Wange der Kopf einer kleinen Meerkatze auftaucht. Klappklapp, klappklapp, machen die Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster, und alle auf den Straßen sehen ihr nach. Ich auch. Ich bin schon mittendrin.

      Meine Knie brennen, so aufgeregt rutsche ich auf dem Teppich hin und her.

      Geh nicht so dicht ran, mahnt meine Mutter im Vorbeigehen, und dann bleibt sie hinter mir stehen und schaut still eine Weile selbstvergessen mit.

      Doch ich kann gar nicht dicht genug dran sitzen, will am liebsten hineinkriechen in die Flimmerkiste und mit all den Kindern spielen, die dort drinnen wohnen. Will ihnen zu Hilfe eilen und sie warnen, wenn Gefahr aus einem Hinterhalt droht, wenn ich Dinge sehe, die ihnen entgehen – warum hört mich auch niemand, wenn ich doch: Achtung, hinter dir!, rufe?

      Wie ich das Fernsehen liebte.

      Es brachte meine ausgeprägte Sucht nach Geschichten auf eine neue Ebene. Neben dem täglich Vorgelesenen und dem abendlich Erzählten, dessen Protagonisten ohnehin den Großteil meiner Gedankenwelt bevölkerten, setzten sich die bewegten Bilder, Stimmen und Erkennungsmelodien zu unwiderstehlichen Lebenswelten zusammen, die ich nicht immer von meiner eigenen unterscheiden konnte. Und wollte.

      Ich baute in meinem Kopf Paläste, Burgen und Häuser der Erinnerung für sämtliche Fernsehhelden meiner Generation. Pippi, Michel, die rote Zora, Silas, Timm Thaler, Luzie und Pan Tau. Sichere Räume, in denen sich nichts veränderte, wo die Parameter, die Bedingungen und das Wetter verlässlich dieselben blieben. Genau wie ich und die Kinder auf dem Zelluloid.

      Komm rein, sagt Bobbo und tritt vor mir durch die Tür im Zaun.

      Da ist das Haus. Bekannt und fremd.

      Blickt mir ruhig aus seinem eingezäunten Gehege entgegen, wie ein altes Tier im Zoo. Umringt von Zuschauertribüne, Restaurant und Piratenschiff steht es da und ist ganz das Gegenteil von anarchischer Freiheit.

      Ich hätte es lieber drüben im Wald gefunden. Wild.

      Bobbo schließt die Haustür auf.

      Voilà, sagt er, und sein Tonfall meint nicht die Villa Villekulla, sondern alles andere. Voilà deine Erinnerung, voilà deine Illusionen, voilà der lang verlorene Teil von dir, voilà dein alter Traum. Voilà, da guckst du.

      Das Kind macht große Augen, als es den Fuß über die Schwelle setzt. Ist bereit zu staunen, zu glauben.

      Es ist alles da, wo es hingehört.

      Auf der Hutablage liegt der große alte Taucherhelm, im bekannten Bett – die Füße auf dem Kissen, die Decke über den Kopf gezogen – Pippi. Im Halbdunkel gehe ich langsam durch die Räume. Esszimmerstühle, Schrank und Sofa, Lampe. Ich erkenne die Dinge genau wieder, lasse die Fingerspitzen vorsichtig über die Wände streichen, gebe dem Schaukelstuhl einen leichten Schubs und bemerke vor lauter Bestätigung den Durchzug in meinem Kopf nicht.

      Eine Tür geht auf und eine andere fällt zu. Es ist alles zum ersten Mal da und gleichzeitig für immer weg.

      Nicht eine Sekunde der Pippi-Langstrumpf-Filme wurde im Haus gedreht. Sämtliche Innenszenen sind Studioaufnahmen aus Stockholm.

      Hier haben Inger, Maria und Pär