sowie von Priestern und den Herrschenden, deren Macht und Status von ebendiesem Prozess abhängig waren. Sie konnten nicht wissen, dass der Nil aus den äthiopischen Gebirgen Zehntausende Tonnen extrem fruchtbarer Erde mitbrachte, aufgelöst in kleine Partikel in dem Wasser, das jeden Herbst für einige Monate angeströmt kam. Thales bot also den Athenern eine philosophische Erklärung für etwas, das in Ägypten ein beobachtbares natürliches Phänomen war. Als er sich selbst fragte, woraus die Welt geschaffen sei, und als er darauf antwortete, aus Wasser, war das nur logisch und ganz einfach eine empirische Beobachtung. Thales’ großes Verdienst bestand darin, diese Beobachtung außerhalb jenes religiösen Universums zu beschreiben, in dem der Nil und sein Wasser Manifestationen der Gottheiten selbst waren – und so stellt seine Beobachtung den Beginn der Philosophie dar.
Die von Thales vertretene Auffassung des Wassers erinnert zugleich an die Vorstellungen der alten Ägypter. Sie glaubten, die Quelle jeglichen Lebens sei eine Art unerschöpfliches, ursprüngliches Gewässer, personifiziert durch den Gott Nu, und der Ursprung der beiden heiligen »Flüsse« – dem Nil, Lebensspender, und dem Himmel, über den Ra, der Sonnengott, segelt. In der bodenlosen flüssigen Masse treibt der Same aller Dinge, so erklärten es die ägyptischen Priester. Diese mystische religiöse Theorie über die Erschaffung des Wassers und der Erde, die auf dem damaligen Wissen über den Charakter des Nils beruhte, gehörte zu der Vorstellungswelt, von der Thales umgeben war.
Thales äußerte sich zu einem Zeitpunkt über die Bedeutung des Wassers, als das Nildelta die bei Weitem ökonomisch produktivste Region des Mittelmeerraums und deren kulturelles Zentrum war. Das Nildelta gehörte zur kollektiven Erfahrungswelt der mediterranen Antike, wie sie auch in den Verbindungen zwischen der altägyptischen und der griechischen Götterwelt zum Ausdruck kam. Man darf also die Verwurzelung des Thales im Nildelta mit dessen spezifischer Hydrologie und mythischer Ökologie nicht außer Acht lassen und seine Aussage, alles sei Wasser, analysieren, als sei er auf diesen Gedanken gekommen, während er zwischen den Säulen Athens einherwandelte. Denn dann würde man die Entwicklung der abendländischen Zivilisation als ein in höherem Grade europäisches Phänomen deuten, als sie es in Wirklichkeit war.
Darüber denke ich nach, als ich in einem der Tausenden von Straßencafés in einem der Tausenden Dörfer im Delta sitze, wo die Bevölkerungsdichte noch immer zunimmt, obwohl sie schon 1000 Menschen pro Quadratkilometer beträgt. Die Kontraste zwischen Lebensformen und Lebenswelten sind überwältigend – Männer mittleren Alters in eleganten Anzügen und superteuren Autos, bestimmt unterwegs zu Häusern und Büros mit Klimaanlage, und andere Männer mittleren Alters, die viel älter aussehen und vermutlich zu den 30 Prozent Analphabeten in der ägyptischen Bevölkerung gehören und die hinten auf ihrem Ochsenkarren stehen, ungefähr so wie Bauern es immer getan haben, seit das Rad in Gebrauch genommen wurde, und die versuchen, den Ochsen im Geräuschchaos zu beruhigen. Vermutlich sind sie unterwegs zu dem kleinen Ackerstück, das von ihrer Familie bestellt wird. Als ich aufstehe und Trinkgeld auf den Tisch lege, murmele ich vor mich hin, dass definitiv nicht alles Wasser ist.
Cäsars und Kleopatras Reise auf dem Nil
Wir schreiben das Jahr 47 v. Chr., Alexandria befindet sich noch immer auf dem Höhepunkt seiner Macht. Ein riesiges Schiff segelt langsam den Nil hinauf.14 An Deck stehen Kleopatra, die Königin Ägyptens, und Julius Cäsar, Herrscher über das mächtige Römische Reich. Sie haben ihre Residenz in Alexandria verlassen, um sich dem Volk zu zeigen. 400 kleinere Fahrzeuge eskortieren das Paar. An den Flussufern strömen die Menschen zusammen. Dies sind Szenen einer der legendärsten Schiffsreisen der Weltgeschichte.
Wie immer, wenn es nur wenig schriftliche Überlieferung gibt, ranken sich viele Mythen um die betreffenden Ereignisse. Zu der Schiffsreise findet sich nur eine einzige antike Quelle, und die wurde erst 150 Jahre später aufgezeichnet. Der in Alexandria ansässige Appian schrieb seine berühmte Geschichte erst Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. auf. Der Mangel an exaktem Wissen verleiht der Fantasie Flügel. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde Kleopatras Geschichte von William Shakespeare in Antonius und Kleopatra unsterblich gemacht, unzählige Bücher und viele Filme beschäftigen sich mit dem Schicksal einer der bekanntesten Frauen der Weltgeschichte. Die meisten Historiker sind sich einig, dass Cäsar und Kleopatra ihre große Fahrt auf einem seinerzeit als gigantisch und extravagant geltenden Schiff antraten und dass es sich dabei nicht um eine romantische Reise handelte, sondern um eine Machtdemonstration.
Diese »hochöffentliche« Reise muss, sofern sie denn tatsächlich stattfand, einem politischen Zweck gedient haben.15 Seit undenklichen Zeiten hatten die Pharaonen Schiffsreisen auf der Lebensader des Landes als eine Methode verstanden, ihre Macht zu zeigen. Da sich das ganze Leben der Menschen an den Ufern des Flusses abspielte und alle wussten, dass nur die Mächtigsten über die Mittel für so große Schiffe verfügten, fuhren die Pharaonen den Nil hinauf und hinunter, um an ihre hervorgehobene Stellung in der Gesellschaft zu erinnern und diese zu festigen. Entlang des Nils waren viele kleine und große Paläste errichtet worden, wo die Machthaber ihre Untertanen versammeln konnten. Der Zusammenhang zwischen der Huldigung auf einem Nilschiff und dem Erhalt der irdischen Macht war offensichtlich und konnte wiederholt nachgewiesen werden. Im Jahr 47 v. Chr. wurde dies von Cäsar und Kleopatra offensichtlich ausgenutzt. Nach ihrem Sieg im Krieg gegen Kleopatras Bruder wollte Cäsar als der mächtige, unbesiegbare Herrscher über die neue Provinz des Römischen Reichs auftreten. Für Kleopatra war es wichtig zu zeigen, dass sie sich mit dieser Allianz keineswegs Rom unterwarf. Ob sie auf der Schiffsreise von dem 30 Jahre älteren Cäsar schwanger wurde, ist unter Historikern weiterhin umstritten, obgleich Kleopatra selbst darauf bestand und später Ptolemaios Cäsar das Leben schenkte, der »Caesarion« (»Cäsarlein«) genannt wurde.
Die Reise muss darüber hinaus auch eine religiöse Bedeutung gehabt haben, da der Nil als heiliger Fluss galt und Kleopatra als Stellvertreterin der Isis betrachtet wurde. Kleopatra war sowohl Göttin als auch Königin. Die gemeinsame Schiffsreise mit Cäsar war ein deutlicher Ausdruck dafür, dass sie – wie andere ägyptische Herrscher vor und nach ihr – die kulturelle Bedeutung des Nils sowie das politische Kapital nutzte, Herrscherin und Gottheit des Nils zu sein. Kleopatra, die Nilgöttin in Person, ließ sich auf dem heiligen Fluss feiern. Cäsar, Anführer des mächtigsten Staates der Welt, wusste sowohl um die spirituelle Bedeutung des Nils wie um dessen Rolle als Garant für die Getreideversorgung Roms. Doch was war der Hintergrund dieser Reise?
Kleopatras Vater, Ptolemaios XII., der »Flötenspieler«, war von Rom nicht als König anerkannt worden. Als er starb, bestiegen die achtzehnjährige Kleopatra und ihr sechs Jahre jüngerer Halbbruder, Ptolemaios XIII., den Thron. Die Ambitionen des königlichen Geschlechts waren so total, dass eine bizarre Strategie zum Machterhalt angewandt wurde: Die Kinder des Königs mussten einander ehelichen, um die Reinheit des Geschlechts zu bewahren. Kleopatra bestieg den Thron also zusammen mit ihrem zwölfjährigen Bruder und Ehemann. Die Institutionalisierung der inzestuösen Machtpolitik konnte die herrschende Rivalität indes nicht beseitigen. Die Front verlief nun zwischen Bruder und Schwester. Die Ratgeber Ptolemaios’ XIII. schafften es, Kleopatra aus dem Palast verjagen zu lassen.
In dieser Phase der Wirren segelte Cäsar am 2. Oktober 48 v. Chr. in die Bucht von Alexandria, um die Macht zu übernehmen. Kleopatra witterte die Chance, sich an ihrem Bruder und seinen Anhängern zu rächen. Cäsar war mit einem 30 000 Mann starken Heer nach Ägypten gekommen, richtete sich im Palast ein und erteilte Befehle, als herrsche er bereits über Ägypten. Kleopatras jüngerer Bruder und Ehemann wurde zu Verhandlungen eingeladen.
An dieser Stelle wird Kleopatra ein Teil der Weltgeschichte und tritt als mythische, gleichermaßen romantische wie tragische Figur in die Erzählung ein, die insbesondere durch die 150 Jahre später aufgezeichneten Berichte des römischen Schriftstellers Plutarch Verbreitung fand und die von Shakespeare und anderen Dichtern später weiter ausgeschmückt wurde: Kleopatra begab sich hinter die Linien des Feindes und wurde von einem sizilianischen Händler in einem Teppich eingerollt zu Cäsar gebracht. Am folgenden Tag wurden Ptolemaios und Kleopatra zu Cäsar gerufen, der Kleopatras Charme bereits erlegen war. Ihr Bruder und Ehemann begriff, welche Folgen dies haben könne. Er floh aus dem Palast und rief, dass Kleopatra ihn verraten habe. In dem ein Jahr später folgenden Krieg