man sich diese in Stichworten angedeutete revolutionäre Entwicklung der modernen Physik seit Maxwell vor Augen hält, wohl die folgenschwerste in der ganzen bisherigen Entwicklung der exakten Wissenschaften, so gewinnt man damit erst den richtigen Gesichtspunkt für das Verständnis einiger fundamentaler, zunächst paradox anmutender Bergsonscher Thesen, die er von seinem ersten Werk an mit unentwegter Konsequenz und Unbeirrbarkeit vertrat, und in denen er im Grunde genommen die Entwicklung der modernen Physik in ihren philosophischen Konsequenzen vorwegnahm. Schon im ersten Essai bezeichnete er die physikalische Zeit als eine vierte Dimension des Raumes. Was aber vor allem zunächst als paradox empfunden wurde, seine radikale Ablehnung jedes statischen Substanzbegriffes als eines „Trägers“ von Spannung und Bewegung, das erhielt durch jene Entwicklung der Physik eine glänzende Rechtfertigung. Mit seinem durch und durch dynamischen Denken war Bergson in dieser Beziehung seiner Zeit vorausgeeilt. Wenn man bedenkt, daß selbst die an äußerste Abstraktionen gewöhnten modernen Physiker doch immer wieder gelegentlich in das unserer sinnlichen Vorstellung so verhaftete korpuskulare Denken unbewußt zurückverfallen, so ist es nicht verwunderlich, daß dieser radikale „Mobilismus“ Bergsons als Ausgeburt modernen Bewegungsrausches im Zeitalter der Motorisierung hingestellt wurde.
Mit diesem reinen Dynamismus aber erschöpft sich noch nicht die geniale Antizipation der Bergsonschen Intuition. Sie führt zu einer Vertiefung des Raum-Zeit-Begriffes, die als eine notwendige qualitative Ergänzung zu der revolutionären mathematisch-physikalischen Raum-Zeit-Theorie angesehen werden muß. Auch das ist bisher noch kaum erkannt und nicht richtig gewürdigt worden.
Dabei hätte die wachsende Diskrepanz, die sich in der modernen theoretischen Physik zwischen unserer durch und durch statischen Raumanschauung und der mit dieser Anschauung in keiner Weise mehr vorstellbaren Realität des physikalischen Raum-Zeit-Kontinuums ergibt, längst die Augen dafür öffnen müssen, daß diese Diskrepanz nur durch eine erkenntnistheoretische Besinnung zu überbrücken ist. In der Tatsache, daß die Darstellungsmittel der modernen theoretischen Physik immer fiktionaler und symbolischer werden, sieht Bergson den Ausdruck der Unfähigkeit des rein abstrakten Raumdenkens der Mathematik, den tiefsten dynamischen Grund der Wirklichkeit zu erfassen. Dieses rein abstrakte Raumdenken, das sich in einem völlig qualitätslosen, homogenen, beliebig teilbaren Milieu, dem Bereich der reinen Zahl, bewegt, tritt bei ihm in einen polaren Gegensatz zum eigentlich schöpferischen Grunde der Wirklichkeit. Der wirkliche Raum ist ein dynamisches Kontinuum und keine homogene Leere, die einem Nichts gleichkäme. Die Unstetigkeit der Energiequanten ist eingebettet in dieses dynamische Kontinuum, das von ihnen erzeugt wird, in dem sich alle durchdringen und in das sie sich auflösen können. Mit der Entstehung der Energiequanten entsteht der Raum und vermag mit ihnen dauernd zu wachsen (vgl. die Theorie der kosmischen Evolution bei Pascual Jordan); in ihm durchdringen sich alle zur Einheit eines kosmischen Prozesses. Selbst die physikalischen Konstanten scheinen zu einer Funktion der Zeit zu werden. Die naive Vorstellung von starren unveränderlichen Elementarteilchen, die in einem indifferenten leeren Raum von Ewigkeit her bestehend herumschwirren, ist durch die moderne Dynamik vollständig überwunden, weshalb auch die moderne Atomtheorie nichts mehr gemein hat mit der alten demokritischen Atomtheorie, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die frühere physikalische Mechanik beherrschte. Damit tritt das rein Dynamische in eine eigentümlich polare Spannung zur abstrakten Raumanschauung der reinen Mathematik. In der Tatsache, daß die physikalische Wirklichkeit sich weitgehend ihrem abstrakten Rahmen einfügt, ohne aber je ganz damit zur Deckung zu kommen, sieht Bergson eine Degradation des Wirklichen, die ihren charakteristischen Ausdruck im Entropiegesetz findet. In den tiefsten Grundlagen der Materie, in der Quantenphysik, geht das ursprüngliche Dynamische aber durch die Maschen der abstrakten Zahlenbeziehungen hindurch. In ihren dynamischen Quellpunkten entzieht sich selbst die materielle Wirklichkeit dem statischen Raumdenken des Intellekts.
Das räumlich-quantitativ bestimmte Geschehen der mechanisierten Materie wird so Ausdruck einer metaphysischen Polarität der Wirklichkeit. Es steht in metaphysischer Spannung zur rein qualitativen Differenzierung individualisierender und ganzheitlicher Prozesse der vitalen und seelischen Evolution, auf die die Kategorien des räumlich quantitativen und diskontinuierlichen Denkens in keiner Weise mehr anwendbar sind. Hier verliert vor allem auch die Kategorie der Kausalität ihre Anwendbarkeit in ihrem ursprünglichen Sinne; hier bricht eine wahrhaft spontane und schöpferische Bewegung in die Wirklichkeit ein; hier wird jede Isolierung starrer, amorpher Elemente unmöglich, weil sich alle Momente in intimer Organisation durchdringen zu einer rein qualitativ sich differenzierenden Entwicklungsbewegung — hier hört jedes eigentliche Messen und Zählen auf — vor allem aber: hier verliert die Zeit jeden bloß formalen Charakter und wird zu einem konstitutiven schöpferischen Prinzip der Wirklichkeit. Zählbar ist nur eine homogene Zeit, jene vierte Dimension des Raumes, die in Teile zerlegbar, die miteinander identisch und austauschbar sind, eine Zeit, die reine Wiederholung desselben Vorgangs bedeutet, die durch Festlegung von Zeit-Punkten gemessen wird und damit eigentlich aus Zeitlosigkeiten besteht, eine durch und durch widersprüchliche Zeit; diese Zeit ist im Grunde nur eine Projektion ihrer selbst in den Raum und entspricht einem indifferenten, gedächtnislosen, mechanisierten Geschehen, als welches die Materie sich darstellt. Die wahre schöpferische Zeit des seelischen und geistigen Geschehens ist dagegen eine Zeit, die nie den Zusammenhang mit sich selber verliert, wo die Vergangenheit sich automatisch in kontinuierlicher Durchdringung mit der Gegenwart erhält und je nach der Spannweite des Bewußtseins, die nie zu der diskontinuierlichen Augenblicklichkeit eines bloßen Zeitpunktes zusammenschrumpfen kann, einen mehr oder weniger großen Teil der Vergangenheit in die Zukunft entfalten läßt. Nur in dieser wahren Dauer ist Gedächtnis möglich und zugleich selbstverständlich und braucht nicht besonders erklärt zu werden. Und hier gewinnt nun auch der Begriff der Substanz einen neuen, vertieften und vergeistigten Sinn: je weniger wir uns an ein peripherisches Augenblicksdasein in bloß praktischem Reagieren verlieren, je mehr wir den wertvollsten Ertrag unserer vergangenen Entwicklung zusammenzuschauen und so innerlich zusammenzuhalten verstehen, je größer also die Spannweite und Tiefe unseres Bewußtseins ist, um so mehr Substanz hat unser Wesen, eine Substanz, die sich in dauerndem Wachstum, in fortschreitender Reifung bereichert und in geistigen schöpferischen Tiefen gründet, die von qualitativer Unendlichkeit und damit Unerschöpflichkeit sind.
Ohne diese wahre Dauer gäbe es auch kein Erkennen, das geistige Durchdringung der Wirklichkeit bedeutet, und das so die wahre Freiheit vom Strom der mechanisierten, verfallenden Zeit der Materie zur Voraussetzung hat. Nur die Fähigkeit, auf sich selbst in vertiefender Schau zurückzukommen, in der Spannung des Bewußtseins den Strom des bloß verfließenden Geschehens gleichsam zum Stillstand zu bringen, macht Erkennen möglich. So ist Bewußtsein, Erkennen, gleichbedeutend mit dem Maß von echter Freiheit dem mechanisierten Geschehen gegenüber. Je mehr daher unser Bewußtsein sich verliert in den Reaktionsmechanismen, die in einer ganz nach außen gerichteten Tätigkeit aufgebaut werden, um so mehr wird unser Bewußtsein automatisiert und verliert seine innere Freiheit und Schöpferkraft, eine Gefahr, die in unserer Zeit mit ihrer ständigen Multiplikation versachlichter Beziehungen sehr groß geworden ist. Auch in der Entwicklung des organischen Lebens steht die Spannweite und Intensität des Bewußtseins in genauem Verhältnis zu dem Maß von Freiheit, das auf der betreffenden Organisationsstufe gegenüber der Materie gewonnen worden ist.
So gewinnt mit dem Begriff der wahren Dauer, der schöpferischen Zeit, der Freiheitsgedanke eine zentrale fundamentale Bedeutung in dieser Philosophie, der unabtrennbar ist von der Besinnung auf die wahre transzendentale Würde des Menschen.
In sehr feinsinniger und fruchtbarer Weise hat Bergson diese Gedanken auf das erkenntnistheoretische Gebiet der Sinneswahrnehmungen angewandt. Auch dies ist meist unverstanden geblieben, bzw. in seiner außerordentlichen Tragweite nicht erkannt worden. Ich würde seinen diesbezüglichen Ausführungen folgende schematisierte Form geben: als in sich geschlossenes und dadurch individualisiertes System vermag ein Organismus sich im Fluß der Weltmechanik nur durch ständige Regulationen zu behaupten (für ein mechanisches System gäbe es kein selbständiges Reagieren im Interesse der Selbsterhaltung, denn ein solches System hätte keinen Selbsterhaltungstrieb, wie es überhaupt kein Ganzes, sondern nur eine willkürlich herausgeschnittene Summe rein mechanischen Geschehens sein könnte). Das heißt aber nichts anderes, als daß die Einwirkungen von außen sich in diesem System nicht in mechanischer Kausalität verlieren und zerstreuen, sondern in eigenartiger