auf die Uhr, erhob sich und drückte missmutig auf den Türöffner, fest davon überzeugt, dass gleich eine atemlose Manuela hereinstürmen würde, weil sie möglicherweise etwas vergessen hatte.
Doch Augenblicke später war alles anders: Im fahlen Licht der Diele tauchten zwei Gestalten auf und ließen hinter sich die Haustür zufallen. Einer war wie ein Polizist gekleidet, der andere zivil. Beide vollbärtig, die Augen mit großen Sonnenbrillen verdeckt, lange Haare. Seifritz stockte der Atem, ein nie gekannter Schock übermannte ihn. Erster reflexartiger Gedanke beim Anblick der grünen Polizeiuniform: War Manuela, der 21-jährigen Tochter, etwas zugestoßen? Ein Unfall?
Seine Augen hingen für eine Sekunde an dem Uniformierten, der doch zweifelsohne ein Polizist sein musste. Mit Mütze und dem baden-württembergischen Landeswappen am Ärmel des Anoraks. Gleich würde dieser Beamte eine schlimme Nachricht überbringen. Aber die große Sonnenbrille und möglicherweise eine Perücke mochten nicht zu einem seriösen Polizisten passen. Schon gar nicht jetzt, an diesem dunklen Märzabend.
Und auch der andere Mann, der zivil mit einem Trenchcoat bekleidet war, als sei er ein Kriminalist, trug ebenfalls eine große Sonnenbrille und wirkte genauso wenig vertrauenserweckend.
Seifritz stand wie gelähmt, spürte den Schreck in allen Gliedern – als sei sämtliches Blut in ihm gefroren. Denn augenblicklich erkannte er, was der Uniformierte versteckt gehalten hatte und nun auf ihn richtete: den Lauf einer Maschinenpistole. Die Hände in Handschuhen. Nein, das war kein Polizist.
Der andere hatte seine Hände tief in den Taschen vergraben. Ausgebeulter Stoff ließ eine verborgene Waffe befürchten.
Seifritz war sich schlagartig der Situation bewusst. Überrumpelt in der Wohnung. Keine Aussicht auf Hilfe. Überfallen und eingesperrt im eigenen Haus.
Im Berufsleben war er es als Bankchef und früher auch als Erster Staatsanwalt gewohnt, rational zu denken und entsprechend zu handeln. Jetzt verspürte er Ohnmacht, Panik und Angst. Gedemütigt und in grenzenloser Sorge um Marion, die sich im Obergeschoss aufhielt. Dazu die schreckliche Ungewissheit, was sie mit seiner anderen Tochter gemacht hatten, mit Manuela und deren Freund. Unterwegs auf der Fahrt nach Tübingen abgefangen?
»Wo ist die Frau?«, fragte der Uniformierte völlig unaufgeregt, als sei er sich ganz sicher, dass eine Ehefrau da sein müsste. Noch bevor Seifritz etwas erwidern konnte, traf ihn die Stimme des anderen Mannes ins Innerste: »Seien Sie still, sonst gibt es ein Blutbad.«
Seifritz stand wie erstarrt. »Blutbad«, hallte es in seinem Kopf nach.
»Wo ist die Frau?«, wiederholte der Uniformierte weiterhin ungewöhnlich ruhig.
Seifritz erwiderte mit zitternden Lippen: »Nur meine Tochter ist oben.«
Der Uniformierte fuchtelte mit der Maschinenpistole und bugsierte mit seinem Komplizen Seifritz ins Obergeschoss, wo Marion, die Musik gehört hatte, beim Auftauchen der Männer keinen Laut herausbrachte.
»Ihnen geschieht nichts, wenn Sie tun, was wir sagen«, versuchte der Uniformierte, die spannungsgeladene Atmosphäre mit leiser Stimme zu entschärfen.
»Was wollen Sie?«, wagte Seifritz einen ersten energischen Vorstoß.
Doch statt einer Antwort folgte die unmissverständliche Anweisung, dass Vater und Tochter getrennt würden: Er sollte sich im ehelichen Schlafzimmer aufs Bett legen, Marion in ihrem Zimmer.
Seifritz fühlte panische Angst: Überfall, Mord? Widerstand erschien sinnlos. Allein schon, wie der Uniformierte mit der Maschinenpistole hantierte, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass die beiden nicht mit sich verhandeln ließen. Seifritz flehte die Gangster an, ihn nicht von der Tochter zu trennen. Die Täter ließen sich erweichen: Marion durfte sich neben ihren Vater auf das Ehebett legen. Dort mussten sie jeweils eines ihrer Handgelenke an das des anderen fesseln lassen – mit einer metallischen Handschließe. Jetzt war jeglicher Fluchtversuch vollends unmöglich.
Seifritz, den der rasende Puls atemlos gemacht hatte, riskierte noch einmal die Frage: »Was wollen Sie denn?«
»Fünf Millionen«, gab einer der Räuber zu verstehen und setzte sich seelenruhig neben dem Bett auf einen Stuhl.
Der Bankchef versuchte, wieder langsamer zu atmen, sachlich zu bleiben. »Wo wollen Sie die herkriegen?«
Antwort: »Das ist Ihr Problem. Sie sind doch der Bankdirektor.«
Am nächsten Morgen, noch vor Geschäftsbeginn, sollte das Geld beschafft werden. Doch bis dahin lagen acht qualvolle Stunden vor ihnen.
2
Es wurde die schlimmste Nacht seines Lebens. Und auch Marion würde diese quälende Ungewissheit nie mehr vergessen. Mit einer Hand aneinander gekettet, so lagen Vater und Tochter, den Gangstern hilflos ausgeliefert, auf dem Bett. Voll innerer Unruhe, Angst und Panik. Die Räuber, die sich einen weiteren Stuhl ins Schlafzimmer geholt hatten, stellten immer und immer wieder dieselben Fragen nach den Sicherheitsvorkehrungen in der Hauptstelle der Kreissparkasse, nach Personen und den Örtlichkeiten. Seifritz konzentrierte sich auf die Gespräche und Formulierungen – genau so, wie er es einst als Staatsanwalt gelernt hatte. Als studierter Jurist versuchte er, sich so viel wie möglich von ihnen einzuprägen. Dass sie zwischen 30 und 40 Jahre alt und offenbar Deutsche waren; der Uniformierte ließ einen schwäbischen, der andere einen badischen Akzent anklingen. Sie pflegten einen gewissen seriösen Umgangston, blieben immer beim höflichen »Sie« und wirkten ziemlich gelassen und selbstsicher. Wie Profis, die so etwas schon öfters getan hatten. Die Vollbärte waren vermutlich angeklebt, die Frisuren wohl Perücken. Und die Sonnenbrillen, die sie weiterhin trugen, verbargen die Augenpartien.
Während der Gespräche, bei denen die Männer sachkundige Fragen stellten, erhärtete sich Seifritz’ Verdacht, einer von ihnen könnte sehr gute Kenntnisse über die Abläufe in einer Bank haben. Sei es aus eigener Anschauung oder indem er sich vieles davon hatte erklären lassen. Von wem auch immer. Oder war er gar ein Insider? Ein ehemaliger Mitarbeiter? Sie schienen bestens vorbereitet zu ein.
Jedenfalls hatten beide Gangster einen klar definierten Plan, dessen Realisierung sie zielstrebig verfolgten. Sie wollten mit Seifritz am Montagmorgen kurz vor Geschäftsbeginn in das hoch aufragende Bankgebäude am Göppinger Bahnhof gehen und sich die geforderten Millionen aushändigen lassen. Es schien so, als seien sie sich ihres Vorgehens absolut sicher. Auch wenn ein so hoher Betrag gar nicht im Tresor lagerte.
Vollmundig erklärten sie, im Auftrag »einer Organisation« zu handeln und von dieser auch unterstützt zu werden. Der Uniformierte ergänzte gelassen: »Nach Geschäftsbeginn werden im Schalterraum Personen mit Handtaschen sein, in denen Bomben und Granaten versteckt sind.« Beobachter würden sich zudem im gegenüberliegenden Bahnhof positionieren.
Seifritz plagte nur ein einziger Gedanke: ob es eine Chance gab, mit der Tochter zu fliehen. Doch die Handschließe saß fest, die Rollos an dem am Stadtrand gelegenen Haus waren alle geschlossen – und außerdem hatten die Räuber vorsorglich die Sprechmuschel aus dem Telefon geschraubt. Nichts, was sie taten, wirkte nervös oder fahrig. Es mussten wirklich echte Profis sein, dachte Seifritz.
Irgendwann löschten die kaltblütigen Räuber das Licht, verharrten aber auf ihren Stühlen, um ihre Geiseln in der Gewalt zu haben. Einer der Männer gab sich geradezu fürsorglich: »Ich empfehle Ihnen zu schlafen, denn Sie werden morgen gute Nerven brauchen.«
3
4 Uhr. Erst in drei Stunden würde die Sonne aufgehen. Noch war es stockfinstere Nacht. Seifritz und seine Tochter hatten keine Sekunde schlafen können, lagen schweigend beieinander und lauschten bange und aufgewühlt in die Finsternis. Denn nachdem die Räuber ihre bohrenden Fragen beendet und das Licht gelöscht hatten, war nur noch deren bisweilen schwerer Atem zu hören gewesen. Seifritz hatte einige Male überlegt, ob die Männer eingeschlafen waren. Doch an eine Flucht wäre selbst dann nicht zu denken gewesen. Immerhin waren die beiden schwer bewaffnet und er an seine Tochter gekettet. Schon beim geringsten Versuch, aus dem Bett zu steigen, wären die Gangster wach geworden – sofern sie überhaupt schliefen.
Seifritz