Mareike Löhnert

Emscher Zorn


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Es war Samstag.

      Eine Weile lag er in seinem Bett, ohne sich zu rühren, und weigerte sich, die Augen zu öffnen. Wofür sollte er aufstehen?

      Die Langeweile, die sein Leben beherrschte, legte sich wie Klebstoff über ihn, ließ ihn bewegungslos werden und nahm ihm die Luft zum Atmen. Erst als ihm einfiel, dass heute ein wichtiges Fußballspiel stattfinden würde und er tatsächlich eine Karte fürs Stadion hatte auftreiben können, begann er, sich zu regen.

      Fußball, dieses dämliche Spiel, bei dem erwachsene, durchtrainierte Männer einem Ball hinterherliefen wie Kinder und das Ganze für ein Weltgeschehen hielten.

      Er war kein Fan irgendeiner Mannschaft, schaute sich nie ein Spiel im Fernsehen an. Das Einzige, was er an Fußball liebte, war diese aufgeheizte, gewaltbereite Stimmung im Stadion. Diese Aggression, die alles beherrschte und aus einem braven Familienvater ein wildes Tier werden ließ. Heute fand das lang ersehnte Revierderby statt. Gelb gegen Blau. Auf Aggressionen würde er nicht lange warten müssen. Heute ist ein guter Tag, um sich mal richtig zu schlagen, beschloss er und stieg aus dem Bett.

      Wie immer hatte Mutter den Küchentisch liebevoll gedeckt. Sobald er sich setzte, hörte er das Schlappen ihrer Hausschuhe näher kommen und spürte, wie seine Nackenhaare sich aufstellten. Sie schob ihren runden, weichen Körper zu ihm in den Raum und strich mit der Hand über sein millimeterkurz rasiertes Haar.

      Unwillig zog er den Kopf zur Seite.

      Aus dem Wohnzimmer dröhnte das stumpfsinnige Geplapper des Fernsehers.

      Sie setzte sich zu ihm an den Tisch.

      »Habe ich einen Hunger, Hase. Mir knurrt der Magen, aber ich wollte so gerne mit dir zusammen frühstücken, also habe ich gewartet. Ich sehe dich ja so selten, jetzt, wo du jeden Tag auf der Arbeit bist.« Sie strahlte ihn dämlich an, während sie ihm Kaffee einschenkte und fürsorglich eine Scheibe Graubrot aus dem Discounter auf seinen Teller legte.

      Jakob beobachtete sie schweigend. Er hasste dieses Gefühl von Mitleid, das ihn überkam, wenn er sie ansah.

      Sie faltete ihre Hände und schloss die Augen. »Herr. Wir danken dir für Speis und Trank. Gesegnet seien deine Gaben und deine Güte. Amen.«

      »Amen«, antwortete Jakob leise. Er bestrich sein Brot lustlos mit Marmelade und biss hinein. Mutter schien es wie immer zu schmecken. Sie kaute mit vollen, rosigen Backen. »Ich muss mich beeilen. In einer halben Stunde fängt die Quizshow ›Raten mit Robert‹ an. Danach läuft gleich der Rosamunde-Film. Ich liebe das Fernsehprogramm am Samstagnachmittag.« Ihr einfältiges Lächeln hatte etwas Seliges.

      Komisch, dachte Jakob, sie hängt den ganzen Tag vor der Glotze, verlässt das Haus nur zum Einkaufen und am Sonntag, wenn sie zum Gottesdienst die Straße runter in die Pauluskirche wackelt, trotzdem scheint sie glücklich zu sein. Wie macht sie das nur?

      Er räusperte sich. »Mutter, ich muss dir was sagen.«

      »Was denn?«, fragte sie. »Hase?« Ihre Stimme nahm einen misstrauischen Ton an.

      »Die Maßnahme vom Jobcenter. Ich bin gestern gegangen. Habe abgebrochen. Bin mit den Kollegen nicht klar gekommen.« Er sah sie an.

      Es dauerte lange, bis sie reagierte.

      »Warum sind die Menschen immer so gemein zu dir, Jakob? Ich bin mir sicher, dass du nichts falsch gemacht hast. Die Leute verstehen dich einfach nicht. Das war schon immer so. Ärgere dich nicht, Hase. Es wird alles gut.« Sie widmete sich wieder ausgiebig ihrem Teller und verzog trotzig die Mundwinkel.

      Jakob nahm das angespannte Flackern in ihren Augen wahr.

      »Es geht nicht darum, ob ich mich ärgere oder nicht«, brauste er auf und kämpfte darum, nicht laut zu werden, »es geht darum, dass uns das Geld fehlen wird. Das Jobcenter wird nichts mehr zahlen. Verstehst du? Was machen wir jetzt?«

      Ihr Blick irrte in der Küche umher, ohne etwas zu fassen, streifte planlos über die ramponierte Kücheneinrichtung.

      »Die Wege des Herrn sind unergründlich«, flüsterte sie mit wackliger Stimme, »wir sind Gottes Kinder, und alles hat seine Richtigkeit, auch wenn wir es im ersten Moment nicht verstehen. Wir müssen einfach vertrauen. Das hat dein Vater auch immer gepredigt. Erinnerst du dich?« Ein verklärtes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

      Jakob spürte die Blitze, die plötzlich in seinem Kopf zu zucken anfingen, ein violetter Schleier legte sich über seine Augen, und er hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

      »Du sollst nicht mit mir über Vater sprechen. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«, keifte er sie an. Er schnappte nach Luft und knallte mit zitternder Hand seine Kaffeetasse auf den Tisch. »Bin fertig«, murmelte er mit heiserer Stimme und sprang auf, »ich leg mich noch mal hin.«

      »Ok, Schatz«, rief sie gut gelaunt und begann, vor sich hin summend, den Tisch abzuräumen. Sie war eine Meisterin darin, die Realität zu verdrängen. Fluchtartig verließ er die Küche und verschwand in seinem Zimmer. Er legte sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Es gelang ihm nicht, dafür zu sorgen, dass es Mutter gut ging. Nichts in seinem Leben gelang ihm.

      Die gewohnte Geräuschkulisse des Fernsehers, die durch die Wohnung hallte, wurde lauter.

      Er griff mit einer Hand unter das Bett und zog die Flasche Wodka hervor, die er dort deponiert hatte. Er trank einen großen Schluck direkt aus der Flasche und wurde augenblicklich ruhiger. Noch zwei Stunden, bis er zum Fußball gehen würde. Genau die richtige Zeit, um schon mal vorzuglühen. Er setzte die Flasche an.

      Kapitel 3 – Jakob

      Der Alkohol waberte in weichen Wellen durch seinen Körper, als er einige Zeit später aus dem Bett stieg, um sich fertig zu machen. Vor dem Kleiderschrank rümpfte er die Nase.

      Er besaß nur eine einzige Jeans, die zwar abgewetzt war und Löcher an den Knien hatte, die aber immer noch cooler aussah als seine üblichen Jogginghosen. Er zog sie und ein ausgebleichtes, ehemals schwarzes T-Shirt an und musterte sich im Spiegel.

      Er war zu dünn. Seine mageren Arme ragten wie Striche aus den Ärmeln seines T-Shirts hervor, und unter dem Stoff wirkten die Knochen seiner schmalen Schultern wie spitze Dolche. Immerhin war sein Aussehen gut geeignet, um einen Feind zu täuschen, redete er sich ein. Er mochte vielleicht einen dürren Körper haben, aber er war zäh und in einer Schlägerei nahezu schmerzunempfindlich.

      Kurz steckte er den Kopf ins Wohnzimmer. »Tschüss Mutter, ich bin mal kurz weg.«

      Sie saß hoch aufgerichtet auf der Couch, stopfte sich abwesend Pralinen in den Mund und starrte wie hypnotisiert auf das flimmernde Fernsehbild. »Mmmh«, murmelte sie, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.

      Schön, dass sie glücklich war.

      Bevor Jakob die Haustür hinter sich zuzog, sah er genau, wie Jesus auf dem Bild im Flur die Stirn runzelte und ihm argwöhnisch hinterhersah.

      Das animalische Grölen der Fans riss ihn mit wie eine Sturmflut, als er neben ihnen über die Möllerbrücke in Richtung Stadion lief. Das sonst so friedliche Kreuzviertel, mit seinen hübsch sanierten Altbauten, normalerweise überlaufen von Pädagogen, Lehrern, Studenten, Alternativen, ökologisch korrekten Eltern mit Kleinkindern und linken Möchtegernintellektuellen, verwandelte sich bei einem Heimspiel in einen brodelnden Sumpf. Durch die große Menschenansammlung und die vielen Polizisten kamen sie nur langsam voran. Sie bewegten sich in Schneckentempo und als eine gesammelte Macht. In ihrer einheitlichen grellgelben Fantracht, gemeinsame Parolen und Lieder brüllend, wirkten die Fußballfans wie Soldaten in Uniform, die bereit und auf dem Weg waren, um in den Krieg zu ziehen. Jakob spürte das Kribbeln, das sich von seinen Fingerspitzen aus in den gesamten Körper ausbreitete, als würden Tausende von Bienen unter seiner Haut beginnen zu brummen.

      Die Nachmittagssonne brannte so heiß, dass die von Testosteron geschwängerte Luft zu flimmern schien.

      »Tod dem SV 30«, brüllte ein krank aussehender, rothaariger Mann neben ihm, und Tropfen seiner Spucke trafen Jakob an der Stirn.