er stand zu nah an dem Mann, sodass der Tritt, den er im Training so gut beherrschte, ins Leere ging. Der Riese nahm Toms Kopf mit einem Arm in den Schwitzkasten, mit der anderen Faust hieb er ihm auf den Schädel. Schmerz durchzuckte ihn blitzartig. Die nächste Faust schlug auf der Kieferhöhle ein. Er roch den nach Bier stinkenden Atem des Angreifers, der ihn fest im Griff hatte. Tom wurde übel, und seine Beine gaben nach.
»Kennst du den Film Chinatown?«, hörte Tom in unverkennbar norddeutschem Dialekt.
Tom schnappte nach Luft.
»Da wird Jack Nicholson die Nase geschlitzt. Und weißt du, warum?«
Tom trieb es die Augen aus den Höhlen.
»Weil er sie in Sachen steckt, die ihn nichts angehen. Das wird dir auch passieren, wenn du herumschnüffelst!«
Der Koloss ließ Tom los, schob ihn ein Stück von sich weg, und knallte ihm mit Wucht eine Faust in den Magen. Tom klappte zusammen, der Riese donnerte ihm von rechts und von links die Fäuste ins Gesicht. Ohnmächtig blieb Tom auf dem Fußweg liegen.
2
Ein hohes surrendes Geräusch wie von einem Zahnarztbohrer hatte sich in seinem Kopf festgesetzt. Dann kam der Schmerz – da arbeitete nicht nur ein Zahnarzt, sondern eine ganze zahnklinische Abteilung. Tom öffnete langsam die Augen und sah durch rötliche Nebelschwaden auf die dämonische Maske an der Wand, die er von einem Bali-Urlaub mitgebracht hatte. Er schloss seine Augen gleich wieder, der surrende Bohrer hörte nicht auf. In seinem Mund schmeckte er Galle, er musste gekotzt haben.
Stück für Stück fiel ihm wieder ein, was in der Nacht passiert war: der Rocker – die hohe Stimme – wie chancenlos er beim Kampf war! Die Nachbarin, die Geräusche gehört hatte. Sie hatte ihm geholfen, in seine Wohnung und ins Bett zu kommen. Er tastete nach seinen Wangen. Sie waren geschwollen, als hätte er halbe Äpfel darin stecken. Auf der Stirn hatte sich eine Beule von der Größe eines halben Kartoffelknödels gebildet.
Tom sah auf sein Handy – die Uhr zeigte 9:03. Gerade begann die Redaktionskonferenz. Scheiße. Mühsam stemmte er sich aus dem Bett, stellte die Füße auf den Boden. Auf wackeligen Beinen ging er ins Bad, um sich ein Schmerzmittel zu holen. Im Spiegel erblickte er sein Gesicht. Es sah so übel aus, wie es sich anfühlte. Mit der Zunge tastete er seine Zähne ab, da war kein Schaden entstanden. Dann steckte er sich zwei Ibuprofen 400 in den Mund und spülte sie mit Wasser hinunter.
Tom rief in der Redaktion an und entschuldigte sich. Er sagte, dass er wegen eines Unfalls später kommen würde. Beim Sprechen brachte er die Lippen nur mühsam auseinander und musste seine Sätze oft dreimal wiederholen, weil die Sekretärin ihn nicht richtig verstand. Zum Sender wollte er in jedem Fall gehen, das war er seinem Ehrgeiz schuldig.
Was würde Neuwirt sagen, wenn er von dem Überfall erfuhr? Wahrscheinlich interessierte ihn das gar nicht.
Und seine Mutter? »Was hast du denn angestellt? Wegen nichts wird man nicht so verprügelt.« Das war ihr Denken, das wusste er.
Duschen war Tom zu anstrengend, vorsichtig wusch er mit einem Frottee-Waschlappen Reste von Blut und Dreck aus seinem Gesicht. Anschließend sprühte er sich ein herb duftendes Deo unter die Arme und zog behutsam ein T-Shirt über seinen ramponierten Kopf.
Nachdem er sich einen Kaffee gemacht hatte, rief er Lisa an und berichtete ihr von seinem Erlebnis. »Meine Nachbarin wollte sogar den Rettungsdienst rufen, doch ich war dagegen.«
»Du tust mir leid, aber markiere jetzt nicht den starken Mann. Geh zu einem Arzt! Du kannst auch eine Gehirnerschütterung haben. Damit ist nicht zu spaßen.«
Tom schnaufte tief, nach einer Pause sagte er: »Es geht schon, hab’ auch ein Schmerzmittel genommen. Ich muss noch zum Sender.«
»Tom, leg dich ins Bett. Bei TV 1 wird jeder verstehen, dass du in deinem Zustand nicht zur Arbeit kommen kannst.«
Tom wechselte das Thema. »Das Schwein hat sich mich ganz bewusst ausgeguckt, hat auf mich gewartet und mich als Schnüffler bezeichnet. Wo schnüffle ich denn? Ich recherchiere in genau einer Geschichte, und das ist die in eurem Restaurant, sonst mache ich gerade nichts. Der Schläger muss irgendeine Verbindung zum Odeon haben!«
»Aber Tom, das kann ich mir nicht vorstellen! Der Steineberg schickt doch keinen Rocker los und lässt Journalisten verprügeln, das ist Blödsinn.«
»Überleg mal, Lisa, an einem Tag fährt mir jemand auf einem Motorrad hinterher, vermutlich Edgar. Am nächsten passt mich ein Typ mit Motorrad zu Hause ab. Da gibt es eine Verbindung, nicht nur wegen der Motorräder. Der eine hat meine Adresse ausgekundschaftet, und der andere hat mich dann zusammengeschlagen. Der Edgar ist nicht sauber.«
Tom merkte, wie Lisa unsicher wurde und dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
»Genau, der muss dahinterstecken«, bekräftigte Tom. »Gib mir bitte mal seine Adresse.«
»Und wenn er doch nicht dahintersteckt?«
»Da geht’s auch nicht um Eifersucht!« Tom spürte wieder den Zahnarztbohrer, und sein Mund war vom vielen Reden ganz trocken.
»Sorry. Das kann ich nicht machen.« Lisa legte auf.
Tom stutzte, spürte Wut in seinem Körper. »Die krieg ich schon noch raus«, murmelte er säuerlich zu sich selbst. Was war mit Lisa los? Verschwieg sie ihm etwas?
Draußen war ein Gewitter aufgezogen. Ein gewaltiger Sturm fegte durch das nördliche München und die Schopenhauerstraße. Der heftige Wind rüttelte an Rollläden, brachte Fahrräder zum Umfallen, ließ Bäume um ihre Äste zittern, Plastiktüten und Zeitungen fegten durch die Gegend. Dann goss es in Strömen, und Hagelkörner begannen, an die Fenster zu trommeln.
Tom hatte sich nochmals hingelegt, konnte aber nicht schlafen. Das Krachen der Donnerschläge schien immer näher zu kommen, aber Tom störte sich nicht am Wetter, sondern es gingen ihm abwechselnd zwei Gedanken im Kopf herum:
Erstens: Was steckte hinter der Verbindung von Edgar zu dem Rocker? Versuchten die vielleicht Steineberg zu erpressen? Und zweitens: Warum verhielt sich Lisa so merkwürdig?
Er beschloss, Eike anzurufen. »Ich glaube, ich weiß, wer mit dieser Geschichte in Verbindung steht.«
»Ich kann dich ganz schlecht verstehen! Du sprichst so leise, hast du den Mund voll? Und außerdem scheint draußen ein Gewitter zu toben.«
Tom bemühte sich, seinen Satz nochmals deutlicher zu wiederholen.
»Was meinst du?«
»Das Odeon und das Rauschgift. Schon vergessen?«
»Was weißt du da?«
»Ich bin sicher, dieser Edgar ist nicht koscher.«
»Edgar, der Kochgehilfe?«
»Genau der. Er muss irgendwie Kontakt zu Drogendealern haben.«
»Wie kommst du darauf?«
»Das erzähl ich dir, wenn ich in der Redaktion bin. Ist ein bisschen kompliziert. Aber kannst du mir einen Gefallen tun? Kannst du herausfinden, wo dieser Edgar Sturm wohnt? Irgendwo im Schlachthofviertel muss das sein.«
»Und wieso machst du das nicht selber?«
Tom versuchte zu erklären, dass es besser sei, bei Ämtern vom Fernsehen aus anzurufen, und dass er nicht so gut reden könne. Schließlich willigte Eike ein, aber Tom spürte eine deutliche Reserviertheit. War er wieder zu forsch gewesen? Vermutlich ja. Er hatte gerade als Neuling einem Reporter in einem geregelten Arbeitsverhältnis einen Rechercheauftrag erteilt.
3
Tom stellte seinen Wagen auf einem Parkplatz in der Kapuzinerstraße ab. Eike hatte ihm dort ein Rückgebäude als Edgars Wohnsitz genannt. Die Gegend um das Schlachthofviertel zeichnet sich durch morbiden Charme aus, wirkt wie ein Stiefkind in der expandierenden Stadt und verfügt doch über einige Adressen für kulinarische Genießer.
Der