Jörg Lösel

Mord à la carte in Schwabing


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Herren in schwarzem Livree zu, der für den Empfang der Gäste zuständig schien: »Schnell, rufen Sie den Notarzt. Da draußen ist jemand zusammengebrochen!«

      »Ben Williams«, stand auf dem Schild, das am Revers der Anzugjacke des Herren befestigt war, und darunter »Chef de la réception«. Er musterte Tom von oben bis unten, legte seine Stirn in Falten und fragte mit starkem amerikanischem Akzent: »Wie schlimm ist es?«

      »Der Mann liegt ohnmächtig auf meinem Auto!«

      Tom warf einen Blick in den Innenraum des Restaurants. In seiner Jeans und der braunen Lederjacke fühlte er sich nicht adäquat gekleidet. Er schenkte wieder Williams seine Aufmerksamkeit und forderte ihn nachdrücklich auf: »Machen Sie schnell! Der Mann kam aus diesem Restaurant und ist zusammengebrochen. Sieht nicht gut aus!«

      »Bitte, erregen Sie kein Aufsehen. Ich kümmere mich sofort!«

      Wie durch einen Schleier nahm Tom das Interieur des Zwei-Sterne-Restaurants auf. Obwohl es schon nach 22 Uhr war, war noch die Hälfte der Tische mit schick gekleideten Menschen besetzt, die Bedienungen servierten erlesene Gerichte und Getränke, es herrschte ein heiteres Grundrauschen vor, in das sich immer wieder ein vornehmes Kichern mischte. Die Einrichtung war elegant, Ton in Ton gehalten mit hellbraunen Stühlen vor weiß gedeckten Tischen, die Wände braun marmoriert, der Boden aus dunklem Parkett. Das indirekte Licht sorgte zusammen mit den abgedeckten Kerzen auf den Tischen für eine stimmungsvolle, edle Atmosphäre. Tom nahm sie wahr, aber für ihn war es eine fremde Welt.

      »Der Notarzt ist unterwegs, und mein Kollege fragt gerade einen Herren, der bei der Reservierung auf seinen Doktortitel verwiesen hat, ob er Arzt ist.«

      Tom zupfte den »Chef de la réception« am Ärmel: »Kommen Sie, wir müssen dem Mann helfen!«

      Während er eilig nach draußen lief, bemerkte er Lisa, die gerade in einer Nische servierte – mit weißen Stoffhandschuhen. Sie erinnerten ihn an die Hände einer Micky-Maus-Figur.

      Als die beiden Männer auf die Straße traten, hörten sie in der Ferne die Sirene eines Krankenwagens. Der Ohnmächtige lag unverändert auf der Kühlerhaube. Angewidert blickte Tom auf die erbrochenen Speisen auf seinem Wagen. Sollten sie den Mann auf den Boden legen? In stabile Seitenlage? Eine Herzmassage machen? Oder vielleicht gar eine Mund-zu-Mund-Beatmung? Tom schüttelte es.

      »Das Zwei-Sterne-Menü scheint Ihrem Gast nicht wirklich bekommen zu sein«, raunte Tom Mr. Williams zu, der dem Bewusstlosen unter die Achseln griff.

      »Reden Sie nicht blöd, helfen Sie mir!«

      Tom nahm die Beine des Mannes, und sie legten ihn auf den in Granitoptik gepflasterten Boden. Das Gesicht des Ohnmächtigen war kalkweiß, die Lippen blau, und es stank nach Erbrochenem. Der »Chef de la réception« versuchte die Halsschlagader zu ertasten, dann den Puls am Handgelenk.

      Tom ging das alles viel zu langsam. »Wir müssen ihn in stabile Seitenlage drehen, sonst verschluckt er vielleicht seine Zunge.«

      »Ich spüre keinen Puls, vielleicht braucht er eine Herzmassage!« Williams zerrte am Hemd des Mannes und riss es auseinander. Fest und rhythmisch drückte er mit beiden Händen auf die Brust des Ohnmächtigen.

      Im nächsten Moment kamen zwei Männer aus dem Odeon angelaufen. Tom erkannte den Sternekoch Steineberg sofort – einen gut aussehenden blonden Mann, der häufig charmant aus den Münchner Boulevardzeitungen lächelte. Er hielt eine weiße Serviette über dem Arm, als müsste er ständig und überall Staubflusen und Schmutz abwischen. Der andere Mann trug einen Bleistiftbart auf der Oberlippe und eine silberne Fliege um den Kragen. Sein Gang mit durchgedrücktem Kreuz und geschwellter Brust ließ seine subjektiv empfundene Bedeutung erahnen. Er schien der Arzt zu sein. »Lassen Sie mich da mal ran.«

      Er drängte Mr. Williams zur Seite, hob die Lider des Mannes an, versuchte zu hören, ob er atmete, fühlte seinen Puls, dann wandte er sich den Umstehenden mit einem Seufzer zu. »Exitus.«

      Tom stutzte. »Ist er tot?« Er spürte sein Herz rasen und seine Haut begann zu prickeln. Aus der Ferne hörte er den Klang des Martinshorns näher kommen.

      Sofort schien Steineberg die mögliche gastronomische Katastrophe für das Odeon zu erfassen. Sein Gesicht trat kantig hervor, und seine hellblauen Augen leuchteten stählern. »Es muss wohl ein Herzinfarkt gewesen sein.«

      Ein paar Schritte neben ihnen hielten zwei Rettungsfahrzeuge. Als der Lärm der Sirenen verstummt war, hörte Tom Türen-Schlagen, kurze Zurufe, Getrampel.

      »Notarzt«, las er auf der roten Jacke, als sich ein stattlicher Mann mit Vollbart über den Bewusstlosen beugte. »Kennt jemand diesen Mann?«, fragte er in die Runde, die sich durch ein paar neugierige Spaziergänger vergrößert hatte.

      »Ich denke, er ist ein Franzose. Er hatte als Monsieur Lalonge bei uns reserviert«, sagte Ben Williams.

      »Er hat sich über meinem Auto erbrochen«, ergänzte Tom.

      »Wurde er angefahren?«, fragte der Notarzt.

      »Nein, er kam direkt aus dem Restaurant. Ich stand auf dem Parkplatz, und er torkelte schon auf dem Weg hierher.«

      Der Notarzt nickte, zog die Geldbörse aus der hinteren Hosentasche des Bewusstlosen und gab sie einem Kollegen. »Sieh nach, ob du Infos zu Krankheiten und Medikamenten darin findest!«

      »Dafür ist es zu spät, der Mann ist tot«, schaltete sich die Person mit dem dünnen Oberlippenbart ein und stemmte die Hände in die Hüften.

      Der Notarzt wandte ihm den Kopf zu. »Sind Sie ein Kollege?«

      »Nicht direkt, ich bin Zahnarzt.«

      Der Notarzt sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Überlassen Sie bitte uns die Diagnose, mein Herr. Wir schauen, was wir tun können.«

      Ungehalten räusperte sich der Zahnarzt und ging eiligen Schrittes zurück ins Restaurant.

      Der Notarzt wies seine Kollegen an, die Krankenwagen-Liege zu holen und Monsieur Lalonge in den Rettungswagen zu bringen.

      Kurze Zeit danach stand Tom hilflos vor seinem Dacia. Er wusste nicht, ob Monsieur Lalonge nun tot war oder nicht. Rettungswagen und Notarzt waren abgefahren, ohne dass sich der Arzt noch einmal geäußert hatte. Und eigentlich war Tom wegen Lisa hier. Da kam es sicher nicht so gut, wenn er sie in dem vollgekotzten Auto nach Hause fahren wollte. Aber immerhin hatte er eine gute Geschichte zu erzählen.

      Im Odeon ließ sich Tom zwei Eimer mit Wasser geben und schüttete sie über der Motorhaube seines Wagens aus. Mit einem Fensterwischer reinigte er die Scheibe von den verbliebenen Speiseresten. Dabei verspannte sich sein Magen, er würgte, hielt die Hand vor den Mund und konnte gerade noch den Kopf drehen, damit die Fontäne nicht wieder auf dem Dacia landete. Am Boden breitete sich ein Brei aus halb verdauten Burgern und Brötchen aus. Jetzt stank er auch noch selbst nach Kotze.

      Genau in diesem Augenblick kam Lisa aus dem Hintereingang des Odeon – gefolgt von einem Typen ganz in Schwarz: schwarz glänzende, nach hinten gekämmte Haare, schwarze Hose aus glattem Leder und schwarzer Kurzmantel über dem Bierbauch. Der Typ war kaum größer als Lisa.

      »Hi, Tom. Was machst du denn hier?«

      »Ich wasche mein Auto«, sagte er mit einem Zwinkern und deutete er auf die zwei Eimer.

      »Mitten in der Nacht – vor dem Odeon?«

      »Ich wollte dich abholen, aber dann ist hier was passiert. Hast du die Sirenen nicht gehört?«

      Kurz zeigte Lisa eine Reihe weißer Zähne zwischen ihren weinroten Lippen. »Doch, doch, Ben sagte, da wäre ein Gast zusammengebrochen.«

      »Der ist direkt auf mein Auto zugelaufen und hat sich dann erbrochen.«

      »Und da-hann … hast duu auch ge-gekotzt«, kam es von dem Typen in Schwarz.

      »Halt dich zurück, Edgar!«, wies ihn Lisa zurecht. »Ach ja, das ist mein Kollege Edgar aus der Küche, und das ist Tom«, machte sie die Männer bekannt. Händeschütteln wollte keiner von