weit war die Liebe zwischen den beiden jungen Menschen gediehen? Sollte mehr daraus werden? War Elise, dieser Gedanke schoss Klemm plötzlich durch den Kopf, von Josef schwanger gewesen, als sie starb?
War das der Grund für die Fassungslosigkeit von Josef Schnaitz gewesen? Es lag noch viel im Dunkeln, das Klemm ans Tageslicht befördern musste.
Ein zerzauster Veterinär, der mitten im Wald mit ein paar Geißen hauste, hatte die Leichen noch in der Tatnacht untersucht – oder das, was von ihnen übrig geblieben war. Der Mann war schwerhörig und nahezu blind; auch hatte er es sonst nur mit Kühen und Rössern zu tun gehabt. Doch das war mangels Viehbestand und leeren Pferdeställen Jahre her. Aus diesem Grund erwartete Klemm keine ermittlungsrelevanten Ergebnisse. Die verkohlten Leiber würden alle Geheimnisse für sich behalten und sie mit ins Grab nehmen. Ohne Gerichtsmediziner, das war dem Kommissär bewusst, war die Sache aussichtslos. Dennoch griff sich Klemm seinen Notizblock und notierte, dass er mit dem Veterinär sprechen musste. Auch die Dorfgemeinschaft wollte er befragen, vielleicht nach der Beerdigung von Bernhard, Elise und Maximilian Pfanzelt, wenn alle anwesend waren.
Klemms Blick fiel auf die mitgelieferten Militärakten der mutmaßlichen Mörder. Zuoberst lag die Akte von Michael Dorn, dem Haupttäter. Der Kommissär nahm sie zur Hand und wanderte in dem zum Büro umfunktionierten Zimmer auf und ab, um sich in den Inhalt zu vertiefen.
Michael Dorn, geboren am fünfzehnten April 1900 in Zwiesel, war jetzt fünfundvierzig Jahre alt. Nach der Volksschule Arbeit als Knecht auf einem Bauernhof in der Nähe. 1932 Eintritt in die NSDAP. Aufstieg zum SS-Sturmbannführer. Dorn galt als aufbrausend, dabei ohne jedes Unrechtsbewusstsein. Die beigefügte Fotografie zeigte einen bulligen Menschen mit einem pockennarbigen Gesicht. Klemm prägte sich die Visage ein.
Offenbar war Dorn im KZ Sachsenhausen gewesen. Wie passte das zusammen?
Ein SS-Sturmbannführer als Häftling in einem Konzentrationslager? Auf dem nächsten Blatt stand als Begründung, dass Dorn ein unverbesserlicher Wilderer gewesen war, der überall, wo ihn seine Einheit hingeführt hatte, sofort in die Wälder gerannt und alles abgeknallt hatte, was ihm vor die Flinte gekommen war. Nachdem er dabei einen Kameraden, der es ihm gleichtun wollte, angeschossen und schwer verletzt hatte, war es seinen Vorgesetzten zu bunt geworden. Sie hatten ihn nach Sachsenhausen geschickt.
Unwillkürlich musste Klemm schmunzeln. Diesen Empfang im KZ hätte er gerne erlebt.
Doch lange war Dorn nicht im Lager geblieben. Ab Ende Mai 1940 hatte Oskar Dirlewanger notorische Wilderer zum Wilddiebkommando Oranienburg zusammengestellt. Daraus war das Sonderkommando Dirlewanger hervorgegangen. Am Ende des Blattes hatte der Beamte der Militärbehörde mit roter Tinte den Vermerk »Verroht« angebracht.
Es war Klemm noch immer ein Rätsel, wie man Dorns Akte so schnell aufgetrieben hatte. Dennoch hielt er sie nun in Händen. Offenbar war der Begriff »Dirlewanger« die Klammer gewesen.
Bevor er das Dossier wieder zurück auf den Schreibtisch legte, betrachtete er noch einmal aufmerksam Dorns Fotografie. Ein runder Kopf. Gerötetes Gesicht vom üppigen Fleischverzehr und regen Alkoholgenuss. Die Nase mindestens einmal gebrochen. Kleine Augen. Dichter, grau melierter Bart. Der Schädel kahl geschoren. Dieses Gesicht würde der Kommissär nicht so schnell vergessen.
Wieder stand er auf, um einen Schluck Wasser zu trinken. Er hätte jetzt gern eine Zigarette geraucht. Aber im letzten Kriegsjahr hatte er aufgehört, und das sollte auch so bleiben – Mordfall hin oder her.
Als er sich wieder gesetzt hatte, kreisten seine Gedanken weiter wie ein Polizeiauto in einem Karussell, das an immer den gleichen Stationen und Bildern vorbeifuhr.
Was würde aus Josef Schnaitz werden? Er hatte sowohl den Arbeitsplatz als auch die Wohnstelle verloren. Sicher würde er irgendwo eine Unterkunft finden. Dass er beim ehemaligen NS-Ortsgruppenleiter Staubwasser unterkam, passte Klemm nicht unbedingt. Aber es war besser, als allein in einer verfallenen Hütte zu hausen.
Klemm verstand sehr wohl, warum Schnaitz helfen wollte, die Täter zu fassen. Zum einen galt es, ein Verbrechen aufzuklären. Zum anderen musste der junge Mann unbedingt zu einer geregelten Tätigkeit und damit zu Geld kommen, wollte er eine Zukunft haben und nicht aus Not in die Kriminalität abrutschen oder sich einer der vielen Schmugglerbanden an der Grenze anschließen. Nicht zuletzt wollte Schnaitz vor allem den Mord an seiner Elise aufgeklärt wissen.
Einen weiteren Grund gab es, den Jungen im Auge zu behalten. Die Täter waren auf freiem Fuß. Schnaitz war der einzige Zeuge der Bluttat. Man würde versuchen, ihn zu beseitigen. Damit wäre der Fall gelöst. Jedenfalls für die Mörder der Familie Pfanzelt. Nicht jedoch für einen hartnäckigen Polizisten wie Leo Klemm.
Er riss sich aus seinen Gedanken und setzte sich wieder an die Maschine. Es war weit nach Mitternacht, als er den letzten Punkt tippte.
Noch fand Klemm keine Ruhe. Auf seinem Schreibtisch lagen weitere Akten, die er dringend lesen musste. Es galt, Informationen zu sammeln, die den überlebenden Mittäter Friedrich Berner betrafen. Er war zusammen mit dem getöteten Sturmbannführer Ruppert Waller in der Gaststätte Pfanzelt gewesen.
Ihnen gemeinsam war, so hatten die vorläufigen Recherchen ergeben, die Mitgliedschaft in eben jenem Sonderkommando Dirlewanger.
Das Sonderkommando war Ende 1940 im polnischen Generalgouvernement Lublin in den Befehlsbereich des höheren SS- und Polizeiführers Odilo Globocnik aufgerückt. Ab Februar 1942 dann zur Partisanenbekämpfung nach Weißrussland versetzt worden, wo es Curt von Gottberg zugewiesen wurde. Ab dem elften November 1942 trug es die Bezeichnung »SS-Sonderbataillon Dirlewanger«, später wurde das »SS-Sonderregiment Dirlewanger« daraus. Mitte 1944 wurde das Regiment dann zur »SS-Sturmbrigade Dirlewanger« umbenannt.
Angewidert blätterte Leo Klemm in den Unterlagen und betrachtete die Fotos der Männer. Da Waller tot war, erschossen von Elise Pfanzelt, legte der Kommissär dessen Akte zur Seite.
Friedrich Berner, der andere überlebende Mittäter des Massakers, geboren 1908 in Zwiesel, war 1930 in die NSDAP eingetreten. Er hatte eine Lehre als Maler abgeschlossen und galt als ein Mann, der alles und jedes organisierte, was in Kriegszeiten von Wert war. Auf dem Bild wirkte er schmal und unnatürlich stolz. Das blonde Haar streng gescheitelt. Zudem ließ sich der Eindruck gewinnen, dass der alleinstehende Mann gern maskuline Burschen um sich scharte. Es fand sich zwar nichts darüber in der Akte, aber Klemm ging davon aus, dass Friedrich Berner homosexuell war. Die Fotografie zeigte ihn in der Uniform eines SS-Rottenführers. Ebenso wie Dorn war Berner nach der Tat sofort abgetaucht. Nun galt es, die beiden möglichst schnell dingfest zu machen. Das hörte sich einfacher an, als es tatsächlich war. Leo Klemm hatte keine Ahnung, wo er in den Wirren des Kriegsendes mit der Suche beginnen sollte. Hier waren der Spürsinn und der Instinkt des erfahrenen Ermittlungsbeamten gefordert.
Er legte eine Landkarte von Bayern auf den großen Besprechungstisch. Nach Passau war es nicht weit, und damit auch nicht nach Österreich. München erschien als weitere Option. Der Osten war versperrt, insbesondere für ehemalige Angehörige der Waffen-SS. Was lag näher, als zunächst einmal die Familie von Michael Dorn in Schachtenstein aufzusuchen?
Der Kommissär verstaute die Landkarte wieder in der dazugehörigen Mappe. Dann legte er die Akten aufeinander, zuoberst die des mutmaßlichen Haupttäters Dorn. Sie würde er morgen zur Befragung von dessen Ehefrau mitnehmen. Klemm löschte das Licht und begab sich in seine karge Schlafkammer. Als er zu Bett ging, schlug es vom Kirchturm zweimal.
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