Kritik ist legitim und nötig, aber was sind ihre Grundlagen und Kriterien? Die dichte und gleichwohl verfehlte Auseinandersetzung zwischen Dessoir und Steiner ist in ihrer Detailliertheit selten und lehrreich. Ungesehen ist bislang, dass Dessoir mit seiner Typologie des »magischen Idealismus« den Ansatz der Esoterikforschung im Sinn von Antoine Faivre vorweggenommen hat. Dessoirs Provokation verdanken wir überdies das Buch »Von Seelenrätseln« (GA 21), zumindest in dieser Gestalt, in dem Steiner im Jahr 1917 eine grundlegende Neuorientierung seines Ansatzes vornimmt und das Verhältnis der Anthroposophie zu den akademischen Wissenschaften innovativ konzipiert.
Performativität und Narrativität ihrerseits sind in sich aufeinander bezogene Forschungsfelder (für die einen) oder Betätigungsfelder (für die anderen). Als mittlerweile gut etablierte kulturwissenschaftliche Konzepte geben sie uns Mittel an die Hand, genauer zu verstehen, was sich in und mit(hilfe) von Steiners Werk abspielt. Sie machen nämlich die ursprüngliche Verwindung von Tun und Verstehen, von Denken im Handeln und Handeln im Denken in Steiners Werk nachvollziehbarer als veraltete binäre Konzepte wie Theorie und Praxis oder theoretischer Überbau und machpolitische Basis. Sie sind deshalb wie kaum andere kulturwissenschaftliche Ansätze geeignet, das Eigene von Steiners Werk mit wissenschaftlichen Mitteln zugänglich und sichtbar zu machen.
Während sich die Performativitätsforschung mehr auf die Handlungsweisen im Sprechen verlegt, richtet die Narrativitätsforschung ihren Blick stärker auf die Genese von Sinnzusammenhängen in den sprachlichen Äußerungen. Anthroposophie ist immer schon Performativität und Erzählung. Sie verlangt einen freien Umgang mit dem Dogma und übt im Blick auf das umfangreiche Werk Steiners die immer neu sich vergewissernde Selbstdisziplin hypothetischer Erfahrungsoffenheit.
Dürfte das Feld des Performativen zumindest im exemplarischen Sinn ausreichend dargestellt sein, bietet das Feld des Narrativen eine größere Zahl an Bezugspunkten und Motiven. Das Kapitel »Der Erzähler Rudolf Steiner« hat, mehr als die anderen, den Charakter eines Werkzeugkastens und der gedrängten Ansammlung von Motiven, die, bei reichhaltig vorliegender Forschungsliteratur im weitläufigen Umfeld, nach einer systematischen Ausarbeitung rufen, die aber den Rahmen dieses Buches sprengen würde. Auch das Thema des Erzählens aus der Akasha-Chronik, wozu andererseits kaum Forschungsliteratur existiert, steht hier als Torso. An diesen Stellen sollte die Arbeit weitergehen.34 Dagegen ließ sich der Beitrag zu Goethes »Märchen« gut in die reichhaltige und ergiebige Forschungsliteratur einbetten und kann in seiner Thesenhaftigkeit für sich stehen. Und zwar auch als Ausgangpunkt für die weiter zu stellende Frage, wie »Märchen« und »Akasha-Chronik« ineinander vermittelt sind.35
Ort und Eigenart dieser Studien
Bei allem Anspruch auf eine systematische Ergründung der Themen sind die folgenden Studien in erster Linie Essays. Die systematische Ordnung der Textsammlung, die gleichwohl besteht, hat sich schlicht sachgemäß durch das Verfolgen der Fragestellungen ergeben. Die Studien sind um gründliche Recherche bemüht, in systematischer Hinsicht aber nicht an Vollständigkeit oder geschlossener Darstellung orientiert. Ihr Weg ist nicht immer linear, dafür aber wohl wendig und anregend, denn Seitenblicke oder historische Nahperspektiven erschließen nicht selten mehr und anderes als der zielorientierte Blick in die Ferne oder nur geradeaus. Mir geht es um einen engagierten, wachen, sich wandelnden und im Habitus freien Umgang mit Steiners Werk, der tatsächlich am wissenschaftlichen Diskurs (wie immer er im Einzelnen aussieht) teilnehmen will, von ihm angeregt wird, aber auch mit der Hoffnung auf Rückfluss verbleibt.
Eine Vorableserin dieses Buches kommentierte, dass es sich doch wohl eher um Antipasti denn um ein solides Vollwertgericht handle. Damit muss ich wohl leben. Aber es gefällt mir. Antipasti sind vielfältig und sie regen an. Sie schließen auf für neue Aromen und Geschmacksnuancen und bieten gelegentlich eine Überraschung. Sie eröffnen den Appetit und schließen den Genuss nicht ab. Und sie wirken leicht. Das mag vielleicht helfen, auf der anderen Seite die Disziplin aufzubringen, es auszuhalten, wenn sich aufwerfende Fragen nicht beantwortet werden (können) und die Arbeit trotzdem weitergeht, vielleicht nur an anderer Stelle.
Der Weg dieser Studien weist in zwei Richtungen. Die eine wendet sich an die Kritiker und skeptisch Neugierigen, welchen ich vorschlage, die Maßstäbe ihrer Kritik oder Vorbehalte zu überdenken. Die andere an die engagierten Vertreterinnen und Vertreter der Anthroposophie, die sich die Gesichtspunkte und Grundlagen ihres Engagements auf dem Hintergrund aktueller akademischer Horizonte auffrischen mögen. Stehen auf der einen Seite Aufräumarbeiten im eigenen Haus an, werden auf der anderen Seite akademische Anschlussmöglichkeiten sichtbar gemacht. Beide Richtungen treffen sich in der Frage: Auf welcher Grundlage ist Kritik am Werk Steiners möglich, ohne dabei das dafür nötige Verständnis zu verschenken?
Die mittlerweile geläufige Unterscheidung zwischen einer Steiner scheinbar verklärenden »Binnenperspektive« und einer einzig zum unabhängigen Urteil fähigen »Außenperspektive« bleibt oberflächlich und unscharf. Vermag ein Blick auf die Binnenperspektive einzig eine lebenspraktische Nähe zum Werk Steiners zu bezeichnen, die im Zweifelsfall für den Angeklagten votiert, ist der Blick aus der Außenperspektive, der in der Kritik nichts zu verlieren hätte, nicht deshalb schon unabhängig und kompetent. Die eigentlich für das Verstehen des Werks Steiners relevante Unterscheidung ist nicht die soziologische zwischen »Innen« und »Außen«, zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Es ist vielmehr die Unterscheidung zwischen einer aktiven Nähe des Verstehen-Wollens und der selbstverantworteten Distanz eigenen Urteils, sogar wechselweise in einer Person. Für diese Unterscheidung, die immer eine dynamische ist und die Fähigkeit zum Standort- und Perspektivwechsel mit einschließt, nehme ich in diesem Buch einige Präzisierungen vor. Für die daran Interessierten ist dieses Buch gedacht.
Der Ausdruck »das Werk Rudolf Steiners«, den ich gerne verwende, schließt Missverständnisse, Irrtümer und Fehler im Werk und dessen Überlieferung mit ein. Gut ist, wenn wir uns darüber im Klaren sind. Der Ausdruck schließt ebenso »Kontingenz« mit ein. Damit meine ich zum Beispiel das Fragwürdige36 aber auch die bemessbare Verlässlichkeit der Ausgabe seiner Werke, die zum größten Teil gar keine Schriften sind, sondern frei gesprochenes ephemeres Wort in verschriftlichter Form, die Architektur sind und soziale Kunst und Handlungskonzepte bergen sowie Selbstformung fordern. Da wir Steiners Werk in erster Linie aber in Form von Texten rezipieren und es weitgehend diese Texte sind, die uns den Zugang ermöglichen, sehe ich die Gesamtausgabe seiner Schriften selbstverständlich als Teil von Steiners Werk an, bei aller denkbaren Ungenauigkeit. Im Einzelnen ist zu differenzieren. Wenn eine starke Deutung von einer Textstelle abhängt, ist es ratsam, sich über deren Überlieferung und Authentizität im Klaren zu werden, dichte Beschreibung zu aktivieren oder schlicht eine Interpretation investigativ zu riskieren. Ansonsten ist eine gewisse Unschärfe überlieferter Worte einkalkuliert. Natürlich ist die Gesamtausgabe seiner Schriften nicht Steiners Werk, sondern das Werk derjenigen, die sie zustande gebracht haben. Aber eben das umgreift Steiners Werk, das mehr ist, als das Werk einer Einzelperson. Im Übrigen verweise ich, was das Verhältnis der Ausdrücke »das Werk Rudolf Steiners« und »Anthroposophie« angeht, auf den »Epilog« des Kapitels »Das Performative als ursprüngliche Dimension der Anthroposophie«.
Dekonstruktion des Dogmas
»Dringlich wird, für den Begriff, woran er nicht heranreicht, was sein Abstraktionsmechanismus ausscheidet, was nicht bereits Exemplar des Begriffs ist.«
»Ein wie immer fragwürdiges Vertrauen darauf, dass es der Philosophie doch möglich sei; dass der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Abschneidende übersteigen und dadurch ans Begriffslose heranreichen könne, ist der Philosophie unabdingbar und damit etwas von der Naivität, an der sie krankt. Sonst muss sie kapitulieren und mit ihr aller Geist.«
Theodor W. Adorno37
Die Ausdrücke »Dogma« oder »dogmatisch« gehören zu den Reizwörtern in anthroposophischen Kreisen. Steiners Darstellungen, so der Konsens, seien keineswegs als »Dogmen« im Sinne unverrückbarer Meinungen oder Lehren zu verstehen. Und als »dogmatisch« eher verpönt gelten Ansichten oder Überzeugungen, die nicht aus eigenem Erleben oder eigener