Sonderreich angeschlossen hatte, war nicht gerade für seine Fügsamkeit bekannt. Doch die neuen Herren waren eifrige Nachahmer römischer Ideale, und es gab keine Auflehnung gegen ihre Regierung der harten Hand. Die westgotischen Könige nahmen gern Geiseln und bestraften ungehorsame Untertanen, aber sie schwelgten nicht in sinnloser Gewalt. Römer traten in ihren Dienst, vor allem der General Nepotanius, der Admiral Namatius aus Saintes und Victorius, der dux super septem civitates, oder »Gebieter über Septimanien«.10 Die Westgoten erließen keine eigenen Gesetze für die Gallorömer, was auf eine Bereitschaft zur Assimilation schließen lässt; eine neue Einteilung des Landbesitzes ging nicht mit größeren Konfiszierungen einher; und in religiösen Dingen entwickelten sich die arianischen Praktiken des westgotischen Klerus parallel zum gut etablierten Netzwerk römischer Bistümer und Landkirchen. Die Tatsache, dass die Synode von Agde im Jahr 506 auf westgotischem Territorium stattfand, lässt vermuten, dass die Nichtarianer keine Angst um ihre Sicherheit hatten.11
Der römischen Stadt Tolosa (Toulouse), auf einer Ebene unterhalb einer alten keltischen Bergfestung entstanden, hatte Kaiser Domitian zu Ehren der Göttin Pallas Athene, der Schutzpatronin der Künste, den Beinamen Palladia verliehen. Umgeben von einer alten augusteischen Stadtmauer war sie mit Aquädukten, Theatern, Bädern und einem aufwändigen Abwassersystem ausgestattet und lag an der strategisch wichtigen Via Aquitania, die durch Südgallien vom Mittelmeer zum Atlantik führte. Seit dem 4. Jahrhundert war sie ein aktives Zentrum des Christentums im Reich und Bischofssitz. Der hl. Saturninus, einer der ersten Apostel Galliens, war um 257 in Tolosa den Märtyrertod gestorben – er wurde von einem wilden Stier durch die Straßen geschleift. Die Basilika, die seine Reliquien hütete, bildete den Mittelpunkt der Gottesverehrung nach dem vom Konzil von Nizäa definierten Glaubensbekenntnis. Die Hauptkirche der Arianer war die in der Mitte des 5. Jahrhunderts über einem früheren Apollo-Tempel errichtete Nostra Domina Daurata.
Aquitanien konnte damals schon auf eine lange Tradition lebhafter theologischer Debatten zurückblicken. Der hl. Hilarius von Poitiers (um 300–368) war auch als Malleus Arianorum, ein früher »Hammer der Arianer«, bekannt. Der hl. Experius († 410), Bischof von Tolosa, bleibt als der Empfänger eines Briefes von Papst Innozenz I. in Erinnerung, in dem dieser den Kanon der Heiligen Schrift festlegte. Der Priester Vigilantius, der um 400 wirkte, galt dagegen als ein kühner Dissident, der den abergläubischen Heiligen- und Reliquienkult verurteilte. Der hl. Prosper von Aquitanien (um 390–455) war Historiker, Schüler des Augustinus und der erste Fortsetzer der Universalgeschichte des Hieronymuse12, und der hl. Rusticus von Narbonne († 461) schließlich, ein Vorkämpfer dessen, was später als »Katholizismus« gelten sollte, kämpfte gegen die neue nestorianische HäresieB ebenso wie gegen den älteren Arianismus seiner westgotischen Herren.
Sobald die westgotische Herrschaft etabliert war, dehnte sich das Reich stark aus. In fast jedem Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts kamen neue Gebiete dazu. Die Eroberung von Narbo Martius (Narbonne) im Jahr 436 verschaffte einen direkten Zugang zum Mittelmeer. Die ganze Septimania folgte später als ein Geschenk des Römischen Reiches. Nach dem Hunneneinfall Mitte des Jahrhunderts streiften die Westgoten weit im Norden umher, ein gutes Stück über die Loire hinaus, und im Jahr 470 drangen sie in Mittelgallien ein und verleibten sich die Civitas Turonum (Tours) sowie Arvernis (Clermont) ein. Danach brachten sie Arelate (Arles) und Massilia (Marseille) in ihren Besitz und erreichten bei einem systematischen Eroberungsfeldzug auf der Iberischen Halbinsel die Säulen des Herkules (Gibraltar). Von 474 an herrschte Vincentius, ein Römer in westgotischen Diensten, als Statthalter des Königs in Iberien mit dem Titel eines dux hispaniarum. Zur Jahrhundertwende kontrollierte man den größten aller Staaten im nachrömischen Westen und galt bereits als Gewinner unter den barbarischen Räubern des Reiches.
Theoderich I. (reg. 419–451) war mit zahlreichen Söhnen und Töchtern gesegnet und setzte sie ein, um ein ausgefeiltes Netzwerk dynastischer Allianzen aufzubauen. Vor allem aber blieb er bei zeitgenössischen Chronisten wie bei späteren Historikern wegen seines kühnen Einsatzes bei der Abwehr von Attilas Hunnen in Erinnerung. Er starb als treuer Verbündeter des kaiserlichen Generals Flavius Aëtius im Juni 451, als er seine Krieger in die blutige Schlacht auf den Katalaunischen FeldernC führte, die Gallien vor den furchtbaren Steppenreitem bewahrte.13 Drei seiner Söhne folgten ihm nacheinander auf dem Thron.
Nach Gibbon hatte Thorismund (reg. 451–453) eine Schlüsselrolle in der siegreichen Schlacht gespielt, in der sein Vater starb. Seine Truppen hatte er in Reserve auf den nahen Höhen gehalten, bis er schließlich von oben heranjagte und die Hunnen vom Felde trieb. Doch der Sieg brachte ihm wenig, wurde er doch von seinem Bruder Theoderich ermordet, bevor er seine Macht festigen konnte, angeblich weil er drohte, das Bündnis mit Rom aufzukündigen.
Theoderich II. (reg. 453–466) hat die historische Berichterstattung einerseits durch den schönen Namen seiner Ehefrau Königin Pedauco – was »Gänsefuß« bedeutet – bereichert und andererseits durch eine Beschreibung seiner Person aus der Feder eines Augenzeugen, wie es sie sonst für germanische Könige nicht gibt. Der lateinische Autor Sidonius Apollinaris (432–488) war Bischof von Arvernis und damit ein Untertan der Westgoten. In einem seiner erhaltenen Briefe kommt er der Bitte eines Freundes nach und beschreibt den König ausführlich:
Freilich ist es der Mann auch wert, … gekannt zu werden … Sein Körper ist gerade recht, er ist kein Riese von Gestalt, aber doch größer und stattlicher gewachsen als der Durchschnitt. Er hat einen wohlgerundeten Kopf, auf dem sein Lockenhaar von der glatten Stirn zurück auf den Hinterkopf reicht. Der Nacken sitzt nicht schlaff auf den Schultern, sondern steht kraftvoll empor. Buschige Augenbrauen bekrönen die beiden Bogen der Augen. Wenn er aber seine Augenlider senkt, dann reichen die Spitzen der Wimpern fast bis zur Wangenmitte. Ohren und Ohrläppchen werden entsprechend der Sitte seines Volkes von den zurückgekämmten Haaren bedeckt. Die Nase ist edel gekrümmt. Die Lippen sind schmal und werden durch keine Ausdehnung der Mundwinkel vergröbert. Die unterhalb der Nasenlöcher sprossenden Haare werden täglich abgeschnitten … der Bart, wenn er sich in der unteren Gesichtshälfte erhebt, [wird] ständig vom Barbier geschoren … Kinn, Kehle und der nicht fette, sondern kraftstrotzende Hals haben eine milchweiße Haut, die … von jugendlicher Röte übergossen wird; nicht Zorn, sondern ehrfürchtige Scheu bewirken nämlich häufig bei ihm diese Färbung. Die Schultern sind wohlgerundet, die Oberarme muskulös, die Unterarme kräftig, und breit die Hände; der Brustkorb wölbt sich über den zurücktretenden Bauch empor. Zwischen den Rippenbögen unterteilt ein schmales Rückgrat die Rückenpartie. Beide Hüften strotzen vor starken Muskeln. Im gegürteten Leib herrscht Lebenskraft. Fest wie Horn ist der Oberschenkel, der von Gelenk zu Gelenk voll männlicher Kraft erscheint. Seine Knie sind völlig frei von Falten und voller Schönheit. Die Unterschenkel stützen sich auf feste Waden, aber die Füße, die so mächtige Gliedmaßen tragen, sind dennoch zart.
… Vor Tagesbeginn sucht er mit einem ganz kleinen Gefolge die Gemeinschaft seiner Priester auf und betet mit großem Ernst … freilich … mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung … Der Rest des Morgens wird durch die Sorge um die Verwaltung des Reiches bestimmt. Neben dem Thronsessel steht der oberste Waffenträger. Die Schar der in Pelze gekleideten Gefolgsleute … bleibt … aus der unmittelbaren Umgebung verbannt … Unterdessen werden die Gesandten fremder Völker vorgelassen. Der König hört meistens zu, antwortet aber nur wenig … Wenn [eine Sache] rasch besorgt werden soll, treibt er dazu an. Die zweite Stunde ist da. Er erhebt sich vom Thron und hat nun Zeit, seine Schätze oder die Stallungen zu besichtigen.
Der Bischof, eindeutig ein Bewunderer, kommt nun richtig in Fahrt:
Auf der Jagd hält er es für unter seiner königlichen Würde, sich den Bogen umzuhängen. Wenn er … auf einen Vogel oder ein wildes Tier trifft, lässt er sich vom nachfolgenden Diener den Bogen reichen, dessen Saite oder Sehne lose herabhängt … Er fordert Dich vorher auf, das Ziel zu nennen. Du wählst aus, was er treffen soll, und was Du ausgewählt hast, trifft er. Und wenn schon einmal einer von beiden sich irrt, so irrt weniger