Mit siebzehn Jahren las sie ein Gedicht. Ein älterer Herr hatte es in dem Blumengeschäft auf eine Glückwunschkarte geschrieben, die er dann aber in einen Müllbehälter warf. Dieses Gedicht war voller beunruhigender Wörter, die sie aber gar nicht beunruhigten. Sie konnte es sich nicht erklären. Es war, als würden sich die einzelnen Wörter gegenseitig befrieden, als nähmen sie einander ihr Gift, als heilten sie einander.
Seltsam war auch, daß sie das Gedicht nach einmaligem Lesen auswendig wußte. Beinah, als habe es diese Zeilen immer schon in ihr gegeben, trotz ihrer Angst, oder vielleicht auch wegen ihrer Angst. Es war überhaupt nichts Fremdes in diesen Zeilen, und doch war nichts davon leibhaftig, sondern alles nur ersehnt; aber mit einer Kraft, stärker als alle Wirklichkeit, die sie kannte. Es war die Wirklichkeit, zum ersten Mal die Wirklichkeit, in diesen schmerzenden und doch nicht schmerzenden Wörtern, es war, was sie vermißt hatte, seit sie denken konnte, seit sie das Gift der Wörter empfing. Sie weinte, weinte über das Gedicht, das sie in sich trug, über die Wirklichkeit, die immer schon in ihr gewesen war. Womöglich befanden sich in ihr noch mehr Gedichte und viel mehr Wirklichkeit, als sie bisher angenommen hatte.
In einer Sommernacht des folgenden Jahres schrieb sie selbst ein Gedicht. Es handelte von Wörtern, von nichts als Wörtern, und also von der Wirklichkeit, dem einzigen, das jemals geschah, während so vieles vorgab, zu geschehen. Es handelte von der Wörterwunde, die nicht hatte verheilen können, weil sie immer neu verunreinigt wurde, die Leben nur zuließ, indem sie schmerzte. Und die nur geschlossen werden konnte wiederum durch Wörter, die von tausenden Jahren und Herzen gezeugt worden waren.
In jeder Zeile ihres Gedicht beruhigten einander sieben Wörter, alle sieben Zeilen in veränderter Reihenfolge; bis sie einander von allen Seiten berührt zu haben schienen, bis sie erschöpft von dieser Bewegung seltsam hell geworden waren. Ja, bis nichts von ihnen zurückblieb als ihre Helligkeit.
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