Karl-Dieter spürte das.
Ronny Kapsack war kein Mann der großen Worte. Auf Mützes Bitte hatte er die ganze Mannschaft zusammengetrommelt, Feiertag hin oder her. Schließlich galt es, der Polizei dabei zu helfen, den Tod von Adam aufzuklären. Man traf sich oben auf dem Petersberg, im hinteren Teil der Defensionskaserne, eine der Hauptbauten aus Erfurts preußischer Zeit. Der Raum diente als Sozialraum für die Gärtner vor und während der Bundesgartenschau.
»Der Schurke gehört für immer weggesperrt«, begrüßte der Chef der Gartenbrigade die Kriminalkommissare, »legen Sie los mit Ihren Fragen, meine Mannschaft steht zu Ihrer Verfügung!«
An der Biertischgarnitur saßen fünf Männer und drei Frauen unterschiedlichen Alters. Alle trugen sie grüne Arbeitslatzhosen und Gummistiefel, auch wenn heute nur wenige im Einsatz sein konnten. Offensichtlich hatte ihr Chef ihnen das professionelle Outfit befohlen. Auch Kevin Wieland war mit dabei. Mütze hatte ausdrücklich darauf bestanden. Der junge Mann saß ganz außen, neben einer hennaroten Kollegin mit jeder Menge Piercings in den Ohren. Mütze nahm Wieland immer wieder in den Blick. Täuschte er sich oder wirkte es nur so, dass er nicht ganz dazugehörte?
Ronny Kapsack, der Obergärtner, hatte sich in einen Plastikstuhl fallen lassen. Mütze überließ Braunkärsch das Wort. Etwas Thüringisch konnte nicht schaden, das lockerte die sichtlich angespannte Atmosphäre vielleicht etwas auf.
»Nun, ich will mich kurzfassen«, begann Braunkärsch, der kein großer Redner war, »wie ihr wisst, ermitteln wir in Sachen Tod von Adam Sternberg. Wer von euch hat eine verdächtige Beobachtung gemacht?«
Schweigen. Die versammelte Gärtnermannschaft sah Braunkärsch nur regungslos an.
»Hat Adam Sternberg vielleicht jemandem erzählt, was er Ostern vorhatte? Es gibt Hinweise, dass er zu einem Rendezvous unterwegs war.«
Einige der Gärtner schauten Richtung Kevin Wieland, was diesem offensichtlich unangenehm war.
»Was glotzt ihr mich denn so an? Ich hab den Herren Kommissaren schon erzählt, dass ich nichts weiß.«
»Okay«, sagte Braunkärsch, der sich zusehends unwohler in seiner Haut fühlte, »ich verteile jetzt unsere Autogrammkarten. Wem noch ein sachdienlicher Hinweis einfällt, der möge sich bitte an uns wenden.«
Ronny Kapsack entließ seine Mannschaft mit knappen Worten.
»Tja, tut mir leid, die Herren.«
»Kein Thema«, sagte Mütze, »Ihre Meinung würde mich noch interessieren. Was war Adam Sternberg für ein Mensch?«
»Für ein Mensch?« Die Frage schien Kapsack zu verblüffen. »Nun, Adam war ein guter Arbeiter, fleißiger Mann, vielleicht nicht mehr ganz so leistungsfähig wie früher, aber wer von uns ist das schon, nicht wahr, Herr Kommissar? Entschuldigung, verstehen Sie mich nicht falsch, ich meine, über Tote nur Gutes.«
»Über Tote nur die Wahrheit.«
»Wie bitte?«
»So lautet die tiefergründende Übersetzung des lateinischen Zitats. De mortuis nil nisi bene – Über Tote nichts als die Wahrheit, und das in fairer Weise.« In Latein machte Mütze so schnell keiner was vor.
»Gut, gut, Herr Kommissar, ich habe verstanden, also, ich will fair sein, an Adam Sternberg lässt sich nichts aussetzen.«
»Was wissen Sie über sein Privatleben?«
»Nichts, er war Single.«
»Auch ein Single hat ein Privatleben, gerade ein Single! Herr Kapsack, denken Sie noch mal nach. Adam Sternberg ist doch ein attraktiver Mann gewesen, da lief doch sicher mal was. Vielleicht mal eine Affäre mit einer Kollegin? Vielleicht mit der Rothaarigen?«
»Mit Rita? Nie im Leben! Rita ist lesbisch.«
»Okay, ich meine ja nur. Und was ist mit dem jungen Wieland, wie hat er sich mit dem verstanden?«
»Mit Kevin? Gut, sehr gut sogar. Die beiden waren befreundet.«
»Na also, Herr Kapsack, so was interessiert uns. Müssen wir Ihnen denn jeden Krümel aus der Nase kratzen?«
»Herr Kommissar!«
»Entschuldigung, aber ist doch wahr. Also gut, Wieland und Sternberg sind also eng befreundet gewesen. Auch Freunde können sich mal streiten. Hatten Kevin Wieland und Adam Sternberg vielleicht mal Stress miteinander?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Und Sie? Hatten Sie vielleicht mal Stress mit Herrn Sternberg gehabt?«
»Ganz im Gegenteil. Wir haben uns immer blendend verstanden.«
Mützes Handy jodelte los. Es war Professor Hahnemann, der Rechtsmediziner.
»Mütze? Haben Sie Zeit vorbeizukommen? Ja, jetzt gleich. Es gibt interessante Neuigkeiten!«
Theaterleute sind abergläubischer als Hintervorarlberger Sennerinnen. Ein jeder hat seinen speziellen Tick vor einer Premiere. Bevor er das Theater betrat, drehte Karl-Dieter immer dreimal an seinem Verlobungsring, den ihm Mütze vor vielen Jahren einmal während eines Bodenseeurlaubs geschenkt hatte. Eigentlich ist es nur ein Freundschaftsring gewesen, Karl-Dieter aber betrachtete ihn gerne als Verlobungsring. Freundschaftsring oder Verlobungsring war ja im Grunde egal, der Ring jedenfalls war ein Zeichen ihrer Liebe, und darauf allein kam es doch an. Was hätte er darum gegeben, wenn Mütze heute im Publikum sitzen würde! Aber klar, Mordermittlungen gingen natürlich vor. Was würden die Leute auch denken, wenn sich der neue Kriminalhauptkommissar entspannt eine Ballettaufführung ansehen würde, noch dazu im Schatten des Domes, in dessen Glockenstube vor einem Tag eine grausam verstümmelte Leiche gebaumelt hatte.
Karl-Dieter betrat die Oper durch das Foyer. Es erfüllte ihn mit nicht geringem Stolz, für dieses schöne Haus arbeiten zu dürfen. Welche Transparenz, welche Leichtigkeit, welche Eleganz! Glas und schlanke Betonsäulen strahlten lichte Offenheit aus, wie eine Kapsel schien der Publikumsraum in dem klar strukturierten Gebäude zu schweben. Das Markgrafentheater in Erlangen war ebenfalls ein besonderes Haus, doch das Theater Erfurt öffnete sich mit seiner Schauseite zur Stadt und verströmte dadurch einen geradezu urbanen Glanz.
Karl-Dieter grüßte eine quirlige Garderobenfrau. Sie stammte aus Berlin, war aber schon ewig beim Erfurter Theater angestellt. Als sie den Bühnenbildner sah, kam sie eilig auf ihn zugestürmt.
»Sagen Sie, Karl-Dieter, Ihr Freund ist doch bei der Kripo, nicht wahr?«
»Ja, wieso?«
»Den Toten aus dem Dom, den kenne ik, glob ik.«
»Tatsächlich?«, fragte Karl-Dieter erstaunt.
»Bin mir ziemlich sicher, hab sein Foto auf der Polizeiseite gesehen. Der war öfters bei uns zu Gast. Ist immer alleene gekommen, gegangen aber ist er stets in Begleitung.«
Ohne etwas zu verraten, eilte Professor Hahnemann den Kommissaren voraus die Treppen hinunter zum Keller seines Instituts, öffnete eine Stahltür und ließ die Neonröhren des Sektionssaals aufflammen.
»Nachschub?«, fragte Mütze und deutete auf den Untersuchungstisch. Auch Braunkärsch trat näher und zog die Stirn kraus. Ein merkwürdiger Anblick bot sich den Kommissaren. Auf dem nackten Körper einer älteren Frau standen lauter umgestülpte Gläser, in denen zahlreiche Fliegen herumbrummten. Viele krabbelten auch an den Innenseiten der Gefäße herum oder auf der Haut der Toten, ein makabres Gewusel.
Professor Hahnemann grinste. »Kein Fall für Sie. Wir wollen uns nur den Vermehrungszyklus von gewöhnlichen Stubenfliegen anschauen, die ihre Eier auf frischen Leichen ablegen. Damit hoffen wir, den Todeszeitpunkt künftig noch genauer bestimmen zu können. Die Dame hat sich der Wissenschaft zur Verfügung gestellt.«
»Sehr ehrenhaft«, sagte Mütze und räusperte sich, während Braunkärsch seinen Blick rasch abwandte.
»Kommen Sie«, sagte der Professor und ging zum Kopf des Saales, wo sich ein tiefer Schrank mit zahlreichen Schubladen befand. Lächelnd zeigte