Das Sechstagespiel ist eine theatrale Ästhetisierung des täglichen Lebens, die gesellschaftliche Alltagshandlungen in allen Erscheinungsformen präsentiert: essen, trinken, feiern, Sexualität, Leben sowie die Polarität der Daseinsfrage mit extremen Glücks-, Verzückungs- und Erregungszuständen, religiösen Praxen, opferrituellen Vorgängen, mit Hang zur Tötung und Destruktion, Verdrängungsmechanismen. Dafür stehen die Schlossanlagen in Prinzendorf als geeigneter Schauplatz. Die Aktionen des Sechstagespiels wurden mit vorbereiteten Geschmacks- und Geruchswerten möglichst synchron in Verbindung gebracht und so übermittelt, dass sie von den Zuschauer_innen registriert wurden. Wie noch gezeigt wird, ist das Orgien-Mysterien-Theater voller Anspielungen auf Elemente bzw. Vorgänge der christlichen Religion.
Die Realisation des Sechstagespiels geschah sechs Tage lang wie im realen Alltagszeitablauf – nicht im Sinne der aristotelischen Zeit. Es ereignete sich in realer gelebter Zeit – in Tag- sowie Nachtstunden – und fand bei jedem Wetter statt. Alle Alltagsaktivitäten begannen etwa um 04:45 Uhr oder 05:00 Uhr vor dem Sonnenaufgang oder währenddessen und gingen mit Sonnenuntergang oder nachts gegen 02:00 Uhr oder 03:00 Uhr zu Ende. Außerdem sollte diese Zeitdimension an die Schöpfungsgeschichte erinnern, in der erzählt wird, Gott habe sechs Tage lang ohne Ruhe die Welt geschaffen, bevor er das Wort Fleisch – sprich Realität – werden ließ. Das Sechstagespiel, das zum ersten Mal im Sommer 1998 vom 3. bis zum 9. August vollständig aufgeführt wurde, sammelte alle seit Beginn der 1960er-Jahre im Rahmen des Wiener Aktionismus duchrgeführten Aktionen des Orgien-Mysterien-Theaters. Alle früheren Aktivitäten stehen für Teilverwirklichungen des gesamten Sechstagespiels.
Dass das Schauspiel keine Rolle im Orgien-Mysterien-Theater spielt, ist an der Gestaltungsform erkennbar. Irritierend ist, dass Nitsch keine künstlerische Repräsentation, sondern eine radikale ästhetische Präsentation von Vorgängen schafft. Dabei bedient er sich der klassischen Gattungen der Malerei, der Musik und des Theaters – von denen er ausgeht –, bevor er sie nicht nur gattungsüberschreitend vermischt sowie transformiert, sondern den Wirkungsintentionen seines Theateransatzes entsprechend auf eine institutionskritische Art und Weise neu schöpft.
2.1.2.3. Interaktion zwischen Musik und Aktionen
Das Element Musik im Orgien-Mysterien-Theater ist eine Lärmmusik im wahren Sinn des Wortes und wirkt wie eine überwältigende Kakofonie. Nitschs Lärmmusik führt auch auf Dionysos zurück, auf den er häufig rekurriert – obgleich nicht explizit im Zusammenhang mit der Musik. In der Tat nannten die Griechen und Römer Dionysos wegen des Lärmes, für den sein Gefolge sorgte, auch Bromios und Lärmer. Im Orgien-Mysterien-Theater wird eine einstudierte Lärmmusik veranstaltet. Anthropologisch betrachtet, liegt der Schrei vor dem gesprochenen Wort, von dem sich Nitschs Theaterkonzept löst. Die Lärmmusik des Orgien-Mysterien-Theaters geschieht in einer Art Wechselwirkung mit den Aktionen. In diesem Sinne intensiviert sie die Aktionen und umgekehrt wird die Musik stets von den Vorgängen aktiviert. Neben dieser funktionellen Musik sind die Gattungen der Malerei und des Theaters, die ebenso einer radikalen Umwandlung bei Nitsch unterzogen werden, im Orgien-Mysterien-Theater am wichtigsten, wobei beide während des Schüttens von Farben und Blut, der Ausweidung von Tierkadavern und des direkten Umgangs mit Fleisch, Gedärmen etc. in ästhetischen Vorgängen verschmelzen.
2.1.2.4. Beschreibung des Sechstagespiels
Neben der Verwendung von Film- und Textquellen (z.B. Inszenierungs- und Aufführungstext) liefert die theaterikonographische Perspektive auch reichliche Informationen über vergangene Theatervorgänge. Als einer der Disziplinzweige der Theaterwissenschaft befasst sich die Theaterikonografphie mit der Bildforschung. Ihre Aufgabe besteht darin, auf der Grundlage z.B. von Vasenmalerei (Antike), illustrierten Manuskripten (Mittelalter), „Skizzen, […] Karikatur und Fotografie“ etc. „Bildquellen (im Gegensatz zu schriftlichen oder mündlichen Quellen)“ zu erfassen bzw. zu erschließen, „die über die Theaterkultur einer Epoche Aufschluss geben.“8 Die folgende Beschreibung des Sechstagespiels sowie die gesamte Analyse von Nitschs Theaterkonzept beruht demnach auf einer Kombination von Inhalten aus schriftlichen Quellen (Nitschs theoretischen Texten und Inzenierungstext) und dem Bildmaterial. Den Bildquellen der 100. Aktion (des Sechstagespiels)9 und Dokumenten „gesamtkonzeptionen des 6-tage-spiels“ und „vorläufige, unverbindliche gesamtkonzeption für das vom 3. bis 9. August 1998 in prinzendorf geplante 6-tage-spiel“ 10 ist die nachstehende Beschreibung aufgrund der Übersichtlichkeit entnommen worden.
Als szenisch-performativer Schauplatz des Sechstagespiels waren alle Ecken des Schlosses in Prinzendorf vom 3. bis zum 9. August durchgehend in Aktion: Hof, Park, Stallung, Schüttboden, Weinkeller, Obstgarten, Presshaus, Umgebung, Kellergasse der Eselsstadt. Tische und Bänke wurden entsprechend aufgestellt. Wanderungen und Spaziergänge wurden dabei beliebig unternommen.
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Abbildung 4 & 5:
Überblick über die Gesamtanlage und den Vielort-Schauplatz des Sechstagespiels
Nach Sonnenaufgangsmusik fand bereits am ersten Tag die Schlachtung und Ausweidung eines Stieres statt. Die Motive von Ur- sowie Grundexzess, Uranfang, Mutter-, Vater-, Brudermord sowie Mord am Kreuz, Erbsünde, Sündenfall, Entstehung der Urschuld und der Zeit standen im Mittelpunkt. Dabei wurden die genannten Motive in einem Wechselspiel von Schöpfung, Sein, Exzess, Ereignis und Mord in Verbindung gebracht und erfahrbar gemacht. Auch die ewige Vergegenwärtigung des Opfers Christi durch Messopfer wurde in den Aktionen exponiert. So wurden vor dem Mittagessen Ausweidungs- und Kreuzigungsaktionen mit Fleisch, Blut, Tierkadavern und menschlichen Körpern szenisch-dynamisch durchgeführt. Nach dem Mittagessen wurden die Aktionen in Form von Prozessionen mit Tragbahren fortgesetzt: Passive Akteur_innen und Tierkadaver von Stier, Schwein und Schaf wurden mit Tragegeräten transportiert. Der erste Tag erreichte mit dem Hochziehen eines geschlachteten Stieres an der Schlossmauer in Begleitung aller Orchester und Blaskapellen seinen Höhepunkt. Der zweite Tag begann ebenfalls mit einer Sonnenaufgangsmusik. Im Anschluss umrundeten die Blasmusikkapellen in entgegengesetzter Richtung das Schloss. Danach fanden am Schüttboden im dritten Stock des Schlosses Mal- und Ausweidungsaktionen statt, bei welchen Nitsch und Akteur_innen weiße Flächen mit Blut beschütteten und ein geschlachtetes Schwein ausweideten. Nach dem Mittagessen wurden drei weitere Schweine geschlachtet, womit die Ausweidungs- sowie Beschüttungsaktionen unter dem mystischen Leitmotiv fortgesetzt wurden. Nach Beschüttungs-, Ausweidungs- und Kreuzigungsaktionen fanden als Finale des zweiten Tages Spaziergänge sowie Wanderungen zum Presshaus des Schlosses und zur Eselsstadt statt. Darauf folgten das Abendessen und bei Sonnenuntergang die zweite Malaktion: Blutige Leinwandflächen wurden von Nitsch und den Akteur_innen zusätzlich mit roter Farbe beschüttet, bespritzt und beschmiert. Es folgten Ausweidungsaktionen mit einem geschlachteten Schwein. Wie die beiden vorangegangenen Tage startete der dritte Tag mit Sonnenaufgangsmusik. Dieser Tag war auf den Mythos des Gottes Dionysos mit der Formel „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ ausgerichtet: Der Gekreuzigte wurde mit einem verdrängten Dionysos assoziiert, der zum einen als Prinzip des ekstatischen Werdens und zum anderen als das der Zerstörung sowie als Gott der Weltenauflösung und der Wiedergeburt feierlich zelebriert werden sollte. In diese Richtung tranken und feierten alle Spielteilnehmer_innen hemmungslos, exzessiv und rauschhaft. Es fand zudem ekstatisches Trampeln auf Weintrauben, Obst und Tomaten, auf Tierlungen, Fleisch, Gedärmen, Tierlebern etc. in den mit Blut und Wein gefüllten Sautrögen, begleitet von einem extremen Lärmorchester, statt. Nach Sonnenuntergang wurden ein Stier und ein Mann, der vor dem Stier ans Kreuz gebunden und auf einem Tragegerüst befestigt worden war, von vielen Akteur_innen zur Eselsstadt getragen, wo auf den Wiesen der Rausch seine Kulmination erreichen sollte. Die ganze Aktion wurde von Musik begleitet. Der vierte Tag verlief mehr oder minder so wie die vergangenen Tage mit Aktionenfolgen des mystischen Leitmotives: Installationen mit Fleisch, Gedärmen, Blut, geschlachteten Tierorganen, Tierkadavern und nackten